Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Bundespräsident Steinmeier Das Phantom im Schloss Bellevue
Das Land steckt in einer Krise, die Unsicherheit wächst. Und was macht der Bundespräsident in dieser Situation? Etwas Bahnbrechendes: Er eröffnet einen YouTube-Kanal.
Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Zeit, in der Krisen nicht nur zunehmen, sondern auch näherrücken. Geografisch näher. Oder sie stellen plötzlich das Leben, den Alltag aller Menschen in Ihrem Land komplett auf den Kopf: Corona. Russlands Überfall auf die Ukraine. Inflation, hohe Energiepreise, Wirtschaftsflaute.
Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem die Unsicherheit wächst. Und die von der Regierung noch verstärkt wird. Weil diese statt Antworten vor allem eines liefert: offenen Streit. Die, statt die Gefühle der Bevölkerung zu formulieren und damit auch spürbar anzuerkennen, ihre Politik lediglich kühl skizziert, erklärt oder sogar als vom Wähler einfach nicht begriffen verteidigt.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf der Plattform X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Stellen Sie sich also vor, da würde eine riesige Lücke klaffen. Und in diese Lücke würden Extremisten und Populisten springen. Weil die Regierenden zwar nicht sprachlos sind, an den Bedürfnissen der zu Regierenden aber vorbeireden. Und auf den falschen Kanälen. Stellen Sie sich vor, im Jahr 2024 würde man im Kanzleramt, in Parteizentralen, in Ministerien zwar vorgeben, die immense Kraft der sozialen Netzwerke als Kampagnen- und Kommunikationskanal verstanden zu haben, sich gleichzeitig aber benehmen, als wären Faxabruf und Bildschirmtext der letzte Schrei.
Niemand bremst die Demokratiefeinde
Stellen Sie sich vor, es hätte sich sogar schon lange angebahnt, dass in diese emotionalen, kommunikativen und technischen Lücken Rechtsextreme, Populisten und andere Demokratiefeinde springen – und zwar von niemandem gebremst. All das flankiert von zahlreichen Belegen, Prognosen, Analysen. Medial und gesellschaftlich breit diskutiert.
Stellen Sie sich vor, alle Vorhersagen würden wahr: Eine rechtsextreme Partei siegt das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik bei einer Landtagswahl.
Riesige Freiheit
So. Und nun stellen Sie sich mal vor, Sie wären das Oberhaupt der Bundesrepublik. Sie sind ein erfahrener Politiker. Sie blicken zurück auf Stationen, die Sie bis ans Innerste der Macht und bis ans Äußerste des diplomatisch Möglichen, Nötigsten getrieben haben. Bis ins Auge dramatischer Konflikte, deren Eskalation die ganze Welt in Abgründe gestürzt hätte. Sie waren Außenminister und haben im Nahen Osten vermittelt.
Sie waren Kanzleramtsminister und wissen so gut wie nur wenige aus eigenem Erleben, wie die Maschine läuft. Sie wären qua Amt parteiübergreifend, könnten also frei reden. Und nicht mal Ihr Menschsein würde Ihnen noch im Wege stehen, das natürlich auch begleitet wird von Eitelkeit: Sie befinden sich in Ihrer zweiten Amtszeit und können gar nicht wiedergewählt werden. Sie verfügen also über einen unfassbaren Erfahrungsschatz und über riesige Freiheit.
Nicht einmal 100 Abonnenten
Sie sind also der Bundespräsident, der eigentlich keine Macht hat, außer die des Wortes. Was tun Sie?
Lassen Sie wichtige Gelegenheiten aus, um wichtige Reden zu halten? Und wenn Sie Reden halten, dann verdienen diese das Prädikat 'diplomatisch, ausgewogen, sonor vorgetragen' durchaus – sie reißen aber nicht mit, elektrisieren nicht, berühren nicht? Verpassen Sie Gelegenheit für Gelegenheit, öffentlich zu erinnern, zu ermuntern, zu ermahnen – oder auch den Eindruck zu vermitteln, das Gefühl: "Ich sehe Euch. Ich kenne meine Verantwortung. Ich weiß, dass ich Lotse sein kann – und Lotse sein muss. Ich nutze diese Chancen, die ich habe, den großen Stab, über den ich verfüge, um Ideen zu vermitteln. Um auf Leuchttürme hinzuweisen, die es ja durchaus gibt, die aber in diesen stürmischen Zeiten aus dem Blickfeld vieler geraten"?
Lassen Sie die Dinge lieber laufen, suchen nur die kleine Bühne? Gründen ein kleines Format wie die "Ortszeit", mit dem Sie die Provinz bereisen? Lassen dafür aber die große Bühne aus? Auch die namens Internet? Und sind sich nicht zu schade dann auch noch im Spätsommer 2024 einen YouTube-Kanal einzurichten, der laut Eigenauskunft "die wichtigsten Reden des Bundespräsidenten, spannende Debatten im Schloss Bellevue sowie Eindrücke und Ergebnisse von den Reisen und Terminen des Staatsoberhaupts" zusammenfasst?
Und der nach knapp zwei Wochen nicht mal 100 Abonnenten zählt – bei einem Angebot von 112 Videos, die Ihre Mitarbeiter eifrig darauf geschaufelt haben? Die im Schnitt von einer zweistelligen Zahl User aufgerufen wurden?
Wenn all dies auf Sie zutrifft – dann sind Sie Frank-Walter Steinmeier.
- Eigene Meinung