Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Gründe für EU-Wahlausgang Unverschämt und dumm
Im Politik-Wettkampf zeigt sich: Veraltete Strategien führen nicht zum Ziel, Emotionen hingegen schon. Bislang haben das die wenigsten Parteien verstanden, bis auf eine.
Stellen Sie sich mal vor, Sie haben sich für einen Wettbewerb angemeldet. Für einen Stadtlauf. Sie trainieren und trainieren und trainieren. Aber Sie machen kaum Fortschritte. Stur halten Sie am Trainingsplan fest, sehen aber Ihren Nachbarn Woche für Woche schneller im Park an sich vorbeiziehen. Sie fragen im Freundes- und Bekanntenkreis nach, woran es denn liegen könnte. Und man rät Ihnen: an den Schuhen. Ihre Tennisschuhe aus den Neunzigern sind zwar noch in Schuss, weil Sie selten gespielt haben – aber natürlich sind Sie damit nicht auf dem Laufenden. Luftpolster, Federung – da hat sich ja in den vergangenen 30 Jahren doch so einiges getan, heißt es.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf der Plattform X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Sie aber halten fest an Ihren Schuhen. Die haben sich noch nicht amortisiert. Und diese neumodischen Raketen in Schuhgestalt, die Sie an den Füßen der anderen sehen – das ist nichts für Sie. Ebenso wenig, wie sich an den Zeitgeist heranzuschmeißen. Das ist ja peinlich! Das haben Sie gar nicht nötig.
Tja. Wer gewinnt den Stadtlauf? Sie nicht. Und was ist Ihre Lehre daraus? Nächstes Jahr wieder mit den völlig überholten Schuhen anzutreten und irrational darauf zu hoffen, dass es dann funktioniert? Eine Petition starten, um den Stadtlauf abzuschaffen? Oder so neumodische Schuhe anschaffen? Klingt absurd? Ist es aber nicht. So läuft es seit Jahren in Sachen Social Media.
Trotz TikTok-Erfolg kaltgestellt
Was rinnen gerade die Krokodilstränen bei den Parteien, die sich bei der Europawahl blamiert haben. Falsch, ich muss präzisieren: die sich seit geraumer Zeit in den sozialen Netzwerken blamieren und jetzt schlecht abgeschnitten haben. Vor allem bei den Jungwählern.
Ja, man kann mit Naserümpfen auf das blicken, was der AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah auf TikTok veranstaltet hat. Lustig kann man sich darüber machen, wie plump er sich anbiedert, wie vereinfachend er argumentiert, wie schmierig er rüberkommt. Sehr kritisch sollte man sich ansehen, was er über die angebliche Rolle von uns Frauen erzählt.
Äußerst aufmerksam allerdings sollte man zur Kenntnis nehmen, wie erfolgreich seine Videos waren. In ihrer Reichweite, das sowieso. Aber Krah hat auch einen Punkt, wenn er sagt, dass ein großer Teil des AfD-Erfolgs bei den Jungen auf sein Konto geht. Trotzdem hat er die Gelbe Karte gesehen: Er darf zwar Mitglied der AfD bleiben. In ihren Reihen in Brüssel will sie ihn aber nicht sitzen haben. Nicht wegen seiner zum Teil peinlichen Videos, sondern wegen anderer Skandale. Krah wurde nicht wegen TikTok von der AfD kaltgestellt, sondern trotz TikTok.
Unfassbare Unverschämtheit
Zurück zum Thema. Keine Sorge, das soll nicht der x-te Text darüber werden, dass die Parteien die sozialen Netzwerke verschlafen haben und dasselbe gerade wieder tun, nämlich bei TikTok. Nein, ich möchte heute über Gefühle schreiben. Andere wollen das nämlich nicht. Und genau da liegt das Problem. Auch analog.
Die Linke hat eine Kleine Anfrage an das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf gestellt. Es geht um die Beleuchtung im Bürgerpark Marzahn. Die Frage lautet wie folgt: "Wie bewertet das Bezirksamt das subjektive Sicherheitsgefühl für Passanten und Passantinnen bei der Durchquerung des Parks bei Dunkelheit?" Und die Antwort darauf lautet: "Das Straßen- und Grünflächenamt steht subjektiven Gefühlen für Bürgerinnen und Bürger neutral gegenüber."
Das ist eine unfassbare Unverschämtheit. Und das ist eine unfassbar dumme Verkennung dessen, was Bürgerinnen und Bürger brauchen und was sie erwarten. Eine Verkennung dessen, was Parteien in diesen Zeiten das Überleben sichert. Und was das Einfallstor für Leute wie Krah und Parteien wie die AfD ist. Völlig egal, ob die Bürgerinnen jung sind oder alt.
Es gibt kaum Sicherheiten mehr
Wir alle sind verunsichert. Corona hat uns ganz grundsätzlich vor Augen geführt, dass es keine Sicherheiten gibt. Dass wir nicht auf alles vorbereitet sind. Die Gesellschaft nicht, die Wissenschaft nicht, die Politik nicht. Junge Leute mussten ganz konkret erleben, dass Schulen und Unis plötzlich nicht mehr offen waren. Dass ihnen zugesicherte Hilfen monatelang auf sich warten ließen, trotz anderslautender Versprechen.
Wir alle erleben ganz konkret, dass die Mieten explodieren. Dass die alte Faustformel "ein Drittel des Netto-Einkommens für die Miete" überhaupt nicht mehr hinhaut. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann Ihnen auf Anhieb zwei Paare aus meinem Umfeld nennen, die nur noch deshalb zusammenwohnen, weil sie sich keine zwei Wohnungen leisten können – und weil sie auch gar keine zweite finden. Andersherum kenne ich auch eine junge Familie, die in zwei Wohnungen lebt, weil sie keine große findet, in der alle genügend Platz hätten. Und letztens erzählte mir auf einem Geburtstag eine Frau, dass sie und ihr Mann auf die Zwangsräumung warten. Der Vermieter hatte der vierköpfigen Familie mit zwei Einkommen wegen Eigenbedarfs gekündigt. Und sie finden nichts Neues. Jedenfalls nichts, von dem aus beide Partner ihre Arbeitsstelle unter einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Das Geld ist da, gesucht haben die beiden über ein Jahr lang – allein: Es findet sich nichts. Das Versprechen der Ampel, 400.000 neue Wohnungen in dieser Legislatur zu bauen – ungefähr ebenso realistisch wie Maximilian Krah seriös.
Dabei zu sein, ist nicht alles
Um unseren Alltag mit Inflation, Digitalisierung, Kita-Notstand, Bildungs- und Pflegemisere toben die Klimakatastrophe, die Kriege in der Ukraine und in Nahost und geopolitische Verschiebungen mit noch unbekannten Folgen. All das flankiert von einer dauerstreitenden Ampelkoalition.
Ich glaube nicht, dass es da die richtige Strategie ist, den Gefühlen der Bürgerinnen und Bürger neutral gegenüberzustehen. Genau das aber tun die meisten Parteien in den sozialen Medien.
Dabeisein ist da nämlich nicht alles. Es reicht nicht, sich im Jahr 2024 bei TikTok anzumelden, also endlich mal dahin zu schlendern, wo die AfD seit geraumer Zeit losgesprintet ist, und dann eine Aktentasche zu präsentieren – das ist womöglich ebenso peinlich wie Maximilian Krah. Nur auf einer anderen Ebene. Und trotzdem hat man in der SPD gedacht: "Das ist der Clou, so machen wir’s! Wir lassen den Olaf mit seiner Aktentasche da auftauchen!" So ist der alte Politikstil, die uralte Auffassung von politischer Kommunikation, nur halt anderswo präsentiert. Mit Tennisschuhen gewinnt man keinen Lauf, ich sag’s gern noch mal. Angestaubt bleibt angestaubt, da hilft auch keine Plattform. Im Gegenteil: Die verstärkt den Kontrast zwischen modernem Anspruch und Kreidezeit-Realität noch unerbittlich.
Wollen ist nicht neutral
Eine ebenso entlarvende Idee ist die Bauerntheater-Variante. Was soll es denn aussagen, wenn die Grünen-Chefs Ricarda Lang und Omid Nouripour gemeinsam mit der Europa-Spitzenkandidatin Terry Reintke so offensichtlich inszeniert pseudo-spontan an einer Smartphonekamera vorbeihüpfen und – angeblich nicht abgesprochen – noch schnell die Frage beantworten sollen, was sie denn jetzt vorhaben? Die einzig glaubhafte und richtige Antwort wäre: "Uns eine neue Agentur für unsere Social-Media-Aktivitäten suchen."
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Niemand erwartet von der SPD Tipps zum Thema: "Wie wirke ich möglichst männlich?" Keiner will von den Grünen misogyne Aussagen hören. Aber es gibt doch sehr, sehr viele Grautöne zwischen "stumpf mitmachen, Inhalte egal, Hauptsache fröhlich" und "verstaubt durchs öffentliche Bild trotte(l)n". Es ist möglich, seriöse Inhalte so aufzubereiten, dass sie den Wunsch der Konsumenten nicht triggert, augenblicklich in Sekundenschlaf zu verfallen. Es ist möglich. Man muss es nur wollen. Und Wollen ist nicht neutral.
- Eigene Meinung