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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Verschwörungsmythen Wie Telegram zur gefährlichen Propaganda-Plattform wurde
Verschwörungstheoretiker erhalten in Zeiten des Coronavirus Zulauf.
Geschätzt 20.000 Menschen haben Anfang August in Berlin gegen die Maßnahmen zu Bekämpfung der Coronavirus-Epidemie demonstriert. Das waren weniger, als von den Veranstaltern angekündigt – aber genug, um bundesweit Kopfschütteln, Unverständnis und Besorgnis auszulösen. Wie konnte es so weit kommen, dass zehntausende Menschen die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, kleinreden oder gänzlich leugnen?
Eine gemeinsame Recherche von NDR und Süddeutscher Zeitung lenkt nun erneut den Blick auf den Messengerdienst Telegram. Die Chat-App gilt schon länger als Sammelbecken für Rechtsextreme und Anhänger von Verschwörungserzählungen. Auch viele Teilnehmer der sogenannten "Hygiene-Demos" organisieren sich hier, und das schon seit Wochen. Für viele Beobachter und Kenner der App war der Massenaufmarsch in Berlin insofern keine große Überraschung mehr.
Lügen als Geschäftsmodell
Die Corona-Krise verstärkt einen Effekt, den Experten schon länger beobachten. Anders als YouTube und Facebook straft Telegram die Verbreitung von Falschinformationen zu Covid-19 nicht ab, sondern scheint sie sogar zu begünstigen. "Die Reichweite von Telegram-Kanälen, die Verschwörungstheorien verbreiten, ist massiv gestiegen", sagt Josef Holnburger. "Sachen, die von YouTube gelöscht wurden, tauchen bei Telegram wieder auf."
Der Politikwissenschaftler hat untersucht, wie rechte Verschwörungstheoretiker von der Corona-Krise profitieren, indem sie in öffentlichen Telegram-Kanälen Unwahrheiten über Covid-19 verbreiten – und damit Geld verdienen. Da werden "Premium-Kanäle" gegen eine Abogebühr ins Leben gerufen, Merchandise-Artikel angeboten oder selbst verfasste Bücher beworben.
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Bedürfnis nach einfachen Antworten
"Die zum Teil widersprüchlichen Aussagen aus der Wissenschaft und die Unsicherheit in der Corona-Krise haben ein Bedürfnis nach einfachen Antworten geweckt", erklärt Holnburger. "Verschwörungstheorien sind gut darin, einen Schuldigen zu präsentieren. Das macht sie so effektiv und das ist auch ein Grund, warum sie gerade einen starken Zulauf bekommen."
Seit Beginn der Corona-Krise haben einige der prominentesten deutschen Rechts-Influencer mehrere tausend Abonnenten dazu gewonnen, zeigt Holnburgers Analyse. Die beliebtesten Beiträge werden allein auf Telegram weit mehr als 100.000 Mal angesehen. Oft finden sie anschließend ihren Weg zu weitaus populäreren Diensten wie WhatsApp.
Von Facebook und YouTube enttäuscht
Laut dem Social Media-Experten Martin Fehrensen spielen Messengerdienste eine zunehmend wichtige Rolle bei der Verbreitung von Falschinformationen. "Die Menschen ziehen sich aus der Pseudo-Öffentlichkeit à la Facebook zurück in vermeintlich privatere Räume", sagt der Gründer des Social Media Watchblog.
In geschlossenen Chatgruppen fühlen sich die Nutzer nicht nur ungestörter, sondern übernehmen auch die volle Kontrolle über Inhalte und Empfänger. Denn anders als bei Facebook, YouTube und Co. gibt es keine Filteralgorithmen und auch keine Löschteams, die problematische Inhalte aussortieren könnten. "Auf den großen Plattformen haben die Algorithmen einen enormen Einfluss auf die angezeigten Inhalte", so Fehrensen. "Wenn ich etwas teile, kann ich mir nie sicher sein, dass es auch bei den Menschen ankommt, für die ich es teile."
Wer an die Verschwörung glaubt, findet auch "Belege"
Gerade in der Corona-Krise gehen Facebook, YouTube und Twitter so rigoros gegen irreführende Beiträge vor, wie nie zuvor. Allerdings haben die Maßnahmen nicht immer die gewünschte Wirkung, sagt Fehrensen. "Wenn Beiträge als falsch markiert werden, führt das oft dazu, dass sich die Menschen, die so was posten, bestätigt fühlen. Es passt zu ihrer Theorie, dass Facebook und YouTube die Wahrheit unterdrücken wollen."
Telegram hingegen verspricht größtmögliche Freiheit. Dafür werden auch schon mal lokale Gesetze ignoriert. In mehreren Ländern ist die App verboten, einschließlich dem Herkunftsland Russland. Die einen feiern die Erfinder der App, die Gebrüder Nikolai und Pavel Durov, deshalb als Vorkämpfer für die Meinungsfreiheit. Die anderen halten sie für zumindest dubios. Die Firma selbst ist schwer zu fassen. Mehrmals hat sie ihren Sitz gewechselt und sich so der Justiz entzogen. Mehr zum Hintergrund der App hier.
Telegram verspricht große Reichweite und absolute Freiheit
Trotzdem oder deshalb vertrauen schätzungsweise 400 Millionen Nutzer weltweit der Telegram-App. In Deutschland gilt sie spätestens seit 2019 als sicherer Hafen für Inhalte, die andere Netzwerke als zu problematisch einstufen, um sie stehen zu lassen. Vor allem Rechtsextreme fanden eine neue Heimat, nachdem sie auf Facebook und YouTube zunehmend mit Löschungen und Kontosperren zu kämpfen hatten. "Telegram hat sich gezielt als alternative Plattform für diese Menschen positioniert, die sich von Facebook und YouTube gegängelt fühlten", sagt Fehrensen.
Anders als bei WhatsApp, wo Gruppen auf maximal 256 Teilnehmer begrenzt sind, können Telegram-Influencer in den öffentlichen Kanälen ein nahezu unbegrenztes Publikum um sich scharen. Die Links dazu werden auf allen anderen Plattformen geteilt und die Leute zum Umzug aufgefordert – oft mit dem Hinweis, dass man die "interessanten" Beiträge nur bei Telegram veröffentlichen könne, wo sie vor der "Zensur" sicher seien.
Stafrechtlich relevante Beiträge werden selten gelöscht
Zwar gibt es auch bei Telegram eine Meldefunktion für unangebrachte Beiträge. Doch ob und wie die Plattform dazu verpflichtet werden kann, strafrechtlich relevante Beiträge wie Volksverhetzung und Morddrohungen zu löschen, ist unklar. Für die großen sozialen Netzwerke gilt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Telegram hingegen kann sich als Messengerdienst mit einer vergleichsweise geringen Nutzerschaft in Deutschland den gleichen Anforderungen entziehen.
Kritiker des NetzDG hatten schon 2018 davor gewarnt, dass so etwas passieren würde: Hass und Hetze hören nicht auf, wenn man Facebook-Beiträge und YouTube-Videos löscht. Im schlimmsten Fall findet die Radikalisierung stattdessen fortan im Verborgenen statt – zum Beispiel in geschlossenen Messenger-Gruppen, die sich jeder gesellschaftlichen Kontrolle entziehen.
Grundrecht auf private Kommunikation
"Es wird zunehmend schwierig zu sehen, wie viele Leute, wie in diesen Gruppen kommunizieren", sagt Social-Media-Experte Fehrensen. "Aber wir als Gesellschaft müssen das aushalten und solche Räume für den ungestörten, freien Austausch unbedingt ermöglichen." Das Grundrecht auf private Kommunikation gilt schließlich für alle. Im digitalen Raum spielen dabei verschlüsselte Dienste wie Telegram eine zentrale Rolle.
Um ein "Auseinanderdriften der Gesellschaft" zu verhindern, sind andere Strategien als Verbote gefragt. Anderswo klappt das schon ganz gut: Wer Fragwürdiges auf Facebook postet, muss mit Widerspruch rechnen. Auf Telegram ist das noch die Ausnahme, beobachten Fehrensen und Holnburger. Zum Teil liegt das an den eingeschränkten Funktionen, aber auch am Verhalten der Nutzer und Kanalbetreiber, die ein Hausrecht ausüben und Andersdenkende ausschließen können. So bauen sich Verschwörungstheoretiker ihre eigene Echokammern, in denen sich ihr Weltbild immer weiter festigt.
Fakten statt "alternative Wahrheiten"
Der Politikwissenschaftler Holnburger empfiehlt, diesen Teufelskreis durch gezielte Gegenangebote zu durchbrechen. Das Bundesgesundheitsministerium sei hier bereits mit gutem Beispiel vorangegangen, indem es einen eigenen Telegram-Kanal für Corona-Infos eingerichtet habe. "Dieser Kanal wurde allen deutschen Telegram-Nutzern vorgeschlagen und dient der Gegenaufklärung", lobt Holnburger.
Insgesamt gibt es davon aber noch viel zu wenig auf Telegram, kritisiert Fehrensen. So sei beispielsweise kein einziges deutsches Nachrichtenmedium auf der Plattform vertreten. Dabei muss es nicht bleiben. Das Beispiel YouTube habe bereits gezeigt, dass es sich lohnt, den Verschwörungstheorien und "alternativen Wahrheiten" nicht das Feld zu überlassen, sondern mit eigenen Inhalten auf Augenhöhe zu begegnen.
- Eigene Recherche