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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Anonymous Germany "Bei Hildmann haben wir Halle und Hanau im Hinterkopf"
Anonymous gilt als Aktivisten-Kollektiv, das weltweit digital für Meinungsfreiheit kämpft. Derzeit engagieren sie sich gegen Verschwörungstheoretiker wie Attila Hildmann. Ein Vertreter erklärt, was das Attentat von Halle damit zu tun hat.
Verschwörungstheorien funktionieren nach dem gleichen Muster: Komplexe, schwer erklärbare Zusammenhänge werden vereinfacht und mit einem Schuldigen versehen. Gerade im Zusammenhang mit Corona haben sie Konjunktur. Ein Beispiel: Das Coronavirus sei nur ein Hilfsmittel, um die Bevölkerung zwangsweise zu impfen und sie per implantiertem Chip gefügig zu machen. Ein Drahtzieher hinter diesem Plan: Bill Gates.
Diese Behauptungen sind nachweisbar falsch. Doch es gibt viele Menschen, die solche Geschichten glauben – und das kann deren Verbreiter gefährlich machen. Als einer der bekanntesten Vertreter gilt Attila Hildmann: Eigentlich erlangte dieser als exzentrischer veganer Koch Bekanntheit, jetzt schart er Tausende Anhänger um sich und verbreitet gefährliche, teils antisemitische Unwahrheiten im Netz und auf Demos in Berlin.
Nun ist Hildmann ins Visier von Anonymous Deutschland geraten. Hinter dem Namen Anonymous verbirgt sich eine lockere anonyme Gruppierung von Hackern und Digitalaktivisten, die sich unter anderem für Meinungsfreiheit im Netz einsetzt. Im Juni rief ein deutscher Arm der Bewegung die "Operation Tinfoil" (zu Deutsch: Operation Alufolie) aus und geht seitdem immer wieder gegen Hildmann im Netz vor. "Tinfoil" ist dabei eine Anspielung auf den Aluhut, mit dem Verschwörungstheoretiker assoziiert werden.
t-online.de konnte ein Chat-Interview mit einem Mitglied von AnonNewsDE (Anonymous Germany) führen. Die Gruppe sieht sich als Sprachrohr der deutschen Anonymous-Szene, die es seit mindestens 2008 gibt. Im Chat erklärt ein AnonNewsDE-Vertreter, warum die Gruppe Hildmann und seine Aussagen als besonders gefährlich für den gesellschaftlichen Frieden erachtet, was Anonymous Deutschland ausmacht und warum auch mal ein Hacktivist eine Pause braucht.
t-online.de: Anonymous wurde weltweit durch Aktionen gegen alle möglichen Gruppierungen bekannt: von Scientology bis hin zur GEMA – alles im Namen der Meinungsfreiheit. Fühlen Sie sich wohl, mit dem was Sie machen?
Anonymous Germany: Eins vorweg: Wir von AnonNewsDE sind selbst keine Hacktivisten, sondern dienen als Sprachrohr für einen Großteil der deutschen Szene – nicht für alle deutschen Anonymous. Aber generell fühlen wir uns gut, bei dem was wir tun. Oft gibt es einfach nur Lacher in Form von Memes oder lustigen Aktionen. Wir sehen uns aber nicht als Helden oder Weltretter. Ob eine Operation zum Beispiel wirklich etwas bringt, sieht man immer erst im Nachhinein.
Mit Ihrer Operation Tinfoil agieren Sie aktuell gegen Attila Hildmann. Aktivisten haben Anfang Juni seine Website angegriffen, danach haben Sie einen seiner Telegramchats infiltriert. Warum?
Mit der Operation Tinfoil möchte Anonymous auf die Gefahr von Verschwörungsmythen aufmerksam machen. Mittlerweile gibt es so krude Mythen oder Ideologien, welche man nicht mehr mit "das ist doch nur Spinnerei" abtun kann. Hildmann war sowohl medial als auch in den sozialen Netzwerken einer der lautesten. Er stachelt Menschen mit Hass und Lügen an, daher wurde mit ihm angefangen.
Sie haben es aber nicht bei diesen Aktionen belassen: Sie ermutigten auch Anhänger, Abnehmer und Lieferanten von Hildmanns Produkten über seine Gesinnung zu informieren. Viele stellten die Zusammenarbeit mit ihm deswegen ein.
Mit seinen Partnern in Kontakt zu treten, war nicht von Anfang an geplant. Viele Partner haben sich ja schon im Mai und Anfang Juni von ihm distanziert, bevor Anonymous aktiv wurde. Als Hildmann Anonymous Germany dann von selbst den Krieg erklärt hatte ("Sie wollen Krieg? Sie bekommen ihn!"), sind viele Aktivisten virtuell rabiater gegen ihn vorgegangen und haben zum Beispiel Vertriebspartner angeschrieben.
Attila Hildmann ist ja nicht der einzige, der Verschwörungserzählungen verbreitet. Bekannt sind ja auch Xavier Naidoo oder der YouTuber KenFM. Letzterer erreicht mit seinen Videos Millionen Nutzer. Sind diese Leute auch mögliche Ziele für Ihre Angriffe?
Es ist schwierig, KenFM und Attila Hildmann zu vergleichen. Hildmann ist ein Hitzkopf, der unter anderem mit Waffen posiert und so schnell wie möglich einen Umsturz der BRD anstrebt. KenFM dagegen ist ein Manipulator, welcher langsam aber geschickt giftige Gedanken in Köpfe von Menschen pflanzt. Xavier Naidoo ist jemand, der auch einige gefährliche Mythen teilt, aber nicht zum Umsturz oder zu Demonstrationen aufruft. Die Operation Tinfoil soll sich aber nicht nur auf Hildmann konzentrieren.
Sondern?
Gewiss wird Operation Tinfoil weiterlaufen, solange sich Aktivisten dafür interessieren und mitmachen. Es gibt aber eben noch wichtigere Ziele in der Verschwörungsszene und Hildmann wird auf Dauer langweilig. Was wir geplant haben, möchten wir aber nicht verraten. Das mit Hildmann wird sich sowieso bald erledigt haben, da nun auch der Staatsschutz gegen ihn ermittelt und hoffentlich bald aktiv wird.
Solche Sachen sind ja auch eher Aufgabe der Behörden. So mancher würde Ihr Vorgehen ja als Selbstjustiz bezeichnen.
Anonymous erntet immer Kritik, egal gegen wen oder was Anonymous vorgeht. Aber jede Art von Online-Aktivismus ist quasi Selbstjustiz. Und bei der Sache mit Hildmann haben wir immer die Attentate von Christchurch, Halle und Hanau im Hinterkopf. Die Anschläge dort basierten auf Verschwörungsmythen, Hass und gefährlichen Ideologien. Hildmann war bis vor einigen Monaten an sich kein schlechter Mensch: Er hatte eine super Karriere und hat Menschen bezüglich Veganismus inspiriert. Aber das, was er nun macht, ist nicht zu tolerieren.
Sie fürchten also, dass seine Aussagen zu weiteren Attentaten führen könnten?
Genau. Hildmann teilt ja mittlerweile auch Inhalte von QAnon. In den USA gab es durch Anhänger dieser Verschwörungserzählung schon Morde.
Hat QAnon etwas mit Anonymous zu tun? In beiden steckt ja das Kürzel "Anon" drin.
Nein, QAnon hat nichts mit Anonymous zu tun. Beide Gruppen sind zwar auf Imageboards entstanden. Aber bei QAnon gibt sich ein anonymer Typ als "Q" aus. Er behauptet, die höchste Freigabestufe zu besitzen und eng mit Donald Trump in Kontakt zu stehen. Und er prophezeit Dinge, die sich bisher nicht bewahrheitet haben. Zum Beispiel, dass eine geheime Elite Kinder entführt und unterirdisch foltert, um ihr Blut abzuzapfen.
Und wofür steht Anonymous Deutschland?
Anonymous wird bei Zensur, Einschnitten in den Datenschutz, Massenüberwachung, Korruption oder schlechten Urheberrechtsreformen, welche das Internet bedrohen, aktiv. Ebenfalls halten wir nichts von Hass, Gewalt oder Ausbeutung von Menschen: zum Beispiel durch Sekten wie Scientology.
Ein breites Spektrum. Das klingt nach viel Arbeit.
Von 2011 bis 2016 hatten wir tatsächlich keine Pausen. Danach wurde es etwas ruhiger, wir haben jedoch noch immer aktiv getwittert. Aber auch wir müssen uns mal um das reale Leben kümmern. Dauerhaft Anonymous zu sein, kann sogar zu thematischen Burn-outs führen, wenn man nicht aufpasst.
Wie gehen Sie vor? Wer bestimmt, welches Thema gerade wichtig für Anonymous ist?
Anonymous ist ein loses Kollektiv, es gibt keinen Anführer. Es kann zwar sein, dass für bestimmte Operationen ein De-facto-Anführer bestimmt wird. Der haut dann auf den Tisch, wenn es chaotisch wird. Ansonsten ist jeder gleichberechtigt.
Und wie kommen Sie dann auf Ihre Operationen?
Generell lässt sich sagen, dass es bei Operationen Brainstormings mit Ideen gibt und darüber demokratisch abgestimmt wird. Wir von Anonymous Deutschland agieren dabei auf verschlüsselten Matrix-Servern. Hier kann sich jeder einen Account anlegen und mitchatten. Strafrechtlich relevante Dinge werden aber nicht öffentlich angesprochen. Und es werden unter Anons für gewöhnlich keine privaten Details ausgetauscht, man kennt sich nur mit Nicknamen.
Haben Sie denn keine Angst vor der Justiz? Computerattacken können ja strafrechtlich verfolgt werden. Bei einer Operation von deutschen Anonymous 2011 gegen die GEMA kam es sogar zu Hausdurchsuchungen.
Die GEMA-Sache war ein großer Fail. Das Vorgehen damals wurde auch nicht von Anonymous Germany unterstützt. Ansonsten gab es bisher aber keine Probleme bezüglich anderer Operationen. Man hat Respekt vor der Justiz, aber keine Angst. Anons, welche schon länger dabei sind, wissen sich zu schützen. Und neue Anons werden via "Online-Seminar" in Sicherheitsdinge eingeführt.
Es gibt Stimmen, die Sie als "Fake Anonymous" bezeichnen. Attilla Hildmann nennt Sie gerne Antifa. Auf Telegram kritisierte die Gruppe "Anonymous Schweiz" Ihr Vorgehen. Und bis 2016 verbreitete die Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv rechte Inhalte. Die Seite hatte Millionen Likes. Später stellte sich heraus, dass der Rechtsextremist und "Migrantenschreck"-Betreiber Mario Rönsch dahinter steckte. Wenn sich jeder Anonymous nennen kann, wie kann ein Normalbürger wissen, wer "echter" Anonymous ist?
Das muss jeder Nutzer für sich selbst entscheiden. Anonymous kann sich selbst nicht als "Fake" bezeichnen. Wir benennen gerne andere Gruppen, welche verschwörerische Inhalte verbreiten, als "Gruppen, die unter Anonymousflagge agieren" – wie zum Beispiel Anonymous Schweiz auf Telegram. Gegen die Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv haben wir damals aktiv mitgewirkt und letztendlich die Log-in-Daten von "Migrantenschreck" an die Polizei weitergegeben. Anonymous.Kollektiv auf Facebook war quasi die erste große Spaltung von Anonymous, seitdem sind auch viele in diese verschwörerische, rechte Richtung abgedriftet und darauf hängen geblieben. Natürlich hoffen wir, dass nie wieder so eine ekelhafte Hetzseite mit so vielen (gekauften) Likes erscheint. Aber man lernt im Laufe der Jahre, damit umzugehen und sich dagegen zu wehren.
Würden Sie Anonymous Germany also eher als links bezeichnen?
Abgesehen von der netzpolitischen Relation sehen wir uns selbst nur temporär politisch. Auch wenn wir uns selbst zuletzt in einem Twitter-Video als "antifaschistisch" betitelt haben, distanzieren wir uns ebenso von radikalen Aktionen und Mythen aus dem linken Spektrum. Wir selbst sind der Meinung, dass Antifaschismus eine Grundeinstellung sein sollte – und dazu muss man nicht immer richtungspolitisch sein oder agieren. Dies verstehen viele Menschen nicht: Die denken Anonymous ist "Die Antifa". Aber wir haben damit nichts zu tun: Wir sind einfach nur Anonymous.
Vielen Dank für das Gespräch.
- Chat mit einem AnonNewsDE-Vertreter
- Twitter-Account von Anonymous Germany