Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kampf um die Zukunft Die Regierung steuert wissend auf die Katastrophe zu
Warum tut sich die deutsche Politik so schwer damit, angemessen auf die Klimakrise zu reagieren? In seinem Buch "Warum an die Zukunft denken?" kommt der Netzpionier Mario Sixtus zu dem Schluss: Politiker sind einfach viel zu sehr im Hier und Jetzt verwurzelt. Und das hat Gründe, die wir alle kennen.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze redet auffallend selten über Zukunft. Angesprochen auf das so genannte Klimapaket, das von Expertinnen und Experten aufgrund seiner Verzagtheit mit anhaltendem Kopfschütteln und Unglauben bedacht wird, antwortet sie gegenüber t-online.de mit Gegenwart: "Mein Job ist es, das Klima zu schützen und dabei Strukturwandel so zu gestalten, dass wir das Leben der Menschen insgesamt im Auge behalten." Auch wenn – zumindest versteckt – der Begriff Wandel darin vorkommt: Mehr Jetzt kann man zu einem Zukunftsthema kaum in einen einzigen Satz packen.
Auffällig ist auch: Die Umweltministerin und auch die übrigen Mitglieder der Bundesregierung sprechen überhaupt nicht mehr vom Pariser Abkommen, sondern nur noch von irgendwelchen eigenen Klimazielen. Dabei ist das Pariser Abkommen eigentlich eine simple und daher nachvollziehbare Angelegenheit: Am 12. Dezember 2015 beschlossen nach langen, mühsamen Verhandlungen zunächst 55, inzwischen 197 Länder, den Anstieg der globalen Temperatur auf deutlich unter zwei Grad, möglichst 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Bei Nichtstun strebt die Erderwärmung die vier-Grad-Marke an, was das Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten dürfte.
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Faktisch hat die Bundesregierung das Pariser Abkommen aufgekündigt
Der Umweltrat SRU, ein offizielles Beratungsgremium der Bundesregierung, erklärt, was das als konkrete Zahl für Deutschland bedeutet: 7,3 Milliarden Tonnen CO2 ab Anfang 2019 darf die Bundesrepublik noch in die Luft pusten, wenn sie sich an ihr in Paris gegebenes Wort halten will. Machen wir so weiter wie bisher, reicht dieses Budget noch ungefähr bis 2029. Dann ist Schluss. Aus. Null. Mehr geht nicht. Ab dann muss Deutschland CO2-neutral sein.
Die Aufgabe des so genannten Klimakabinetts wäre es also gewesen, Maßnahmen, Regeln, Gesetze und Verbote zu beschließen, die dafür sorgen, dass Deutschlands Output an Klimagiften in diesem eindeutig definierten Rahmen bleibt. Stattdessen gibt die Regierung nun ein neues Ziel aus: 80 Prozent weniger CO2 bis 2050. Das ist der Ausstieg aus Paris.
Das Klimakabinett der Gegenwart hätte eigentlich die Versprechen der Bundesregierung aus der Vergangenheit erfüllen sollen, damit die Bundesbürgerinnen und -bürger der Zukunft möglichst frei von Katastrophen, von Überschwemmungen, von Krankheitsepidemien und Hungersnöten leben können. Drei Zeiten miteinander verbinden: Man nennt das Planung, Zuverlässigkeit oder auch Verantwortung. Darin hat die Bundesregierung nun allerdings spektakulär versagt. Die Regierung kann nicht Zukunft.
Eine Frage des Geldes: Wie viel ist uns die Zukunft wert?
Dass Regierenden ein nahes, ein gegenwärtiges Vorhaben – hier: die Große Koalition zusammenhalten und die Bürgerinnen und Bürger nicht durch unangenehme neue Regeln und Verbote verärgern – wichtiger ist als ein fernes, zukünftiges, großes Ziel, ist kein neues Phänomen. Beim unaufschiebbaren Problem der Klimakatastrophe ist es allerdings besonders auffällig – und fatal. Dabei ist die Unfähigkeit, mit Zukunft umzugehen, keine exklusive Schwäche der Politikerklasse. In dieser Beziehung agieren wir alle nahezu gleichsam unbeholfen.
Psychologinnen und Psychologen haben versucht zu messen, wie stark das Jetzt-haben-wollen-Ich dem planenden Vernunfts-Ich das Spiel verdirbt. In einem Experiment stellten sie die Probanden vor die Wahl: Entweder sie bekommen einen definierten Geldbetrag, sagen wir 50 Euro, in einer Woche ausgezahlt, oder aber sie dürfen einen niedrigeren Betrag sofort mitnehmen. Ist die Differenz zwischen den beiden Geldbeträgen nicht allzu groß, etwa bei einem Sofortbetrag von 45 Euro, dann ist die Motivation zu warten entsprechend gering, und die meisten Versuchspersonen halten sofort die Hand auf. Schrumpft die direkt erhältliche Summe aber, beispielsweise auf 20 Euro, dann warten die meisten lieber die Woche ab. Variieren kann man das Experiment, indem man die angenommene Zeit bis zur Auszahlung der 50 Euro verlängert. Ist der Zahltag mehrere Wochen entfernt, finden viele die 20 Euro auf einmal sehr viel attraktiver. Die 50 Euro in der ferneren Zukunft sind also genau genommen nur 20 Euro wert. Zukunft isst Geld.
Politiker regieren lieber im Jetzt, als die Welt zu retten
Fragt man nach diesem Prinzip ausreichend viele Varianten ab, lässt sich aus den Antworten für jede Versuchsperson eine individuelle Zeit-Wert-Kurve zeichnen, und die verläuft bei allen Befragten abfallend exponentiell. Das heißt: Der gefühlte Wert des Zukunftsbetrags fällt in den ersten Tagen rapide, danach flacht der empfundene Wertverlust ab. Ob die erwartete Auszahlung weit, sehr weit oder superweit in der Zukunft liegt, macht für das Gefühl kaum noch einen Unterschied.
Der angenommene Wertverlust einer in der Zukunft liegenden Geldauszahlung ist verstandesintern nur bedingt logisch konstruiert: Die Studienleiterin, die für die Auszahlung des zugesagten Betrags zuständig ist, könnte schließlich erkranken oder verunglücken, die Forschungseinrichtung könnte schließen, eine Epidemie könnte in der Stadt ausbrechen oder ein Krieg, Außerirdische könnten landen und die Menschheit versklaven, ein schwarzes Loch könnte die Erde verschlingen, was alles die Auszahlung der versprochenen 50 Euro erschweren würde.
Übertragen auf das deutsche Klimapaket: Die Welt in vielleicht dreißig Jahren vor dem Komplettkollaps zu retten, ist für Regierungspolitiker zwar prinzipiell ungleich erstrebenswerter und ruhmreicher als das schnöde Überleben einer glanzlosen Regierungskoalition zu sichern. Letzteres erscheint aber durch seine zeitliche Nähe den Beteiligten viel wertvoller als ersteres. Man könnte diesen Effekt in Anlehnung an den Begriff der optischen Täuschung eine temporale Täuschung nennen, und wäre damit angenehm nah an Star-Trek-Vokabular.
Das Gehirn schreit: "ich, ich, ich" und "will, will, will"
Das Anthropozän, also die jetzige, die menschengemachte Erdzeitphase mit all ihren seltsamen Überlebensregeln und komplizierten zwischenmenschlichen Ritualen, ist nicht die Umwelt, für die das menschliche Hirn ursprünglich konstruiert wurde. Da wäre beispielsweise das sogenannte Belohnungssystem, das uns in der Hauptsache mit zwei Chemikalien auf Trab hält. Zum einen Dopamin, das mit dem – in der Psychologie so bezeichneten – "Wanting" verschränkt ist: Verlangen, Lust, Vorfreude, Begehren, Gier.
Dopamin lässt uns auf ein Ziel zurennen und alles links und rechts davon vergessen, es verleiht uns dabei ein Gefühl von Stärke und Selbstsicherheit. Dopamin spielt auch beim Kokainrausch eine maßgebliche Rolle. Es ruft die ganze Zeit "Ich, ich, ich" und "will, will, will". Das reicht ihm als Kommunikation. Das Wanting ist kein Feingeist. In der Steinzeit gab es für dieses Konzept sicherlich häufig Verwendung, etwa auf der Jagd oder bei der allabendlichen Prügelei um das Fleisch auf dem Feuer.
Wenn Dopamin Mister Hyde ist, dann ist Serotonin Winnie Puuh. Es kommt gemeinsam mit dem "Liking" daher. Serotonin lässt uns ruhig werden, schenkt Zufriedenheit und Entspannung, reduziert Ängste und Aggressionen. Hier ist es doch hübsch, wozu woanders hingehen? Oh, schau, ein Schmetterling!
Die Herkunft dieser beiden Chemikalien aus dem Sex-Betrieb ist dabei ziemlich offensichtlich: Dating → Flirting → Wanting → Dopamin → Sex → Liking → Serotonin → Relaxing → Sleeping. Eigentlich alles prima. Aber.
Dopamin lässt uns kurzentschlossen doch noch auf diese Party gehen, obwohl wir eigentlich nicht wollten und morgen früh doch ein wichtiger Termin im Kalender steht. Es lässt uns dort mehr Alkohol konsumieren, als noch auf dem Hinweg vorgenommen, und es lässt uns mit dieser sympathischen Person flirten, obwohl ... ach egal! Und den Termin morgen früh? Schaffe ich! Morgen habe ich Superkräfte!
Über den Autor
Mario Sixtus, geboren 1965, lebt und arbeitet als freier Autor und Filmemacher in Berlin. Zunächst schrieb er für Print- und Online-Medien, etwa für die "Frankfurter Rundschau", "c't", "DIE ZEIT", "FAS" und "brand eins". Seit vielen Jahren produziert er vor allem für Arte und ZDF Dokumentar- und Fernsehfilme, darunter die mit dem Grimme Online Award ausgezeichnete Reihe "Elektrischer Reporter" und den 2017 für einen Grimme-Preis nominierten Film "Operation Naked". Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" nannte Sixtus einmal den "deutschen Netzprophet". Zwischendurch schreibt Mario Sixtus Drehbücher für Kriminalfilme im ZDF; und gerade plant er einen dystopischen Spielfilm, der in die Zukunft zeigt.
Die Stimme der Bürgerinnen und Bürger muss lauter werden, um das Politiker-Wanting zu übertönen
Das Wanting ist Zukunft, allerdings eine Art Primitivversion. Der Inhalt ist immer nur ein einziger Impuls, aber der ist stark, denn er rückt stets im Team mit chemischer Unterstützung aus der Frühzeit an: die berüchtigten Dopamin-Desperados. Und so kommt es, dass unsere feineren, höheren, neueren Hirnregionen, die gerne eine ausgeklügelte Zukunft für uns planen, voller Vernunft und Hoffnung, im internen Zielringkampf selten eine Chance haben gegen einen deutlichen Kommandoruf des Wanting: Weltretten? Lass es!
Diese Art Zukunft ist eine Anti-Zukunft.
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So gesehen gibt es nur eine Lösung: Das Planen, das Ausrichten des Jetzt auf das Kommende, das Übernehmen von Verantwortung für die noch nicht anwesende Zeit – kurz: die Zukunft – muss zu einer Belohnung der politischen Entscheider im Jetzt führen. Der Dopamin-Kick muss die Politik in die richtige Richtung stupsen. Wir Bürgerinnen und Bürger müssen von den Regierenden Zukunft verlangen! Und zwar laut und deutlich, etwa so wie es "Fridays for Future" tut, nur noch lauter und noch deutlicher – und nicht nur Freitags, sondern auch jetzt und eigentlich immer. Nur wenn die fordernde Stimme der Bürger nach sofortigen Lösungen für das heranrollende Klima-Desaster lauter wird als das Politiker-Wanting nach einer putzigen Gegenwart, könnte es noch etwas werden mit der Zukunft.
Dieser Text enthält Auszüge aus dem Buch "Warum an die Zukunft denken?" von Mario Sixtus, erschienen im Dudenverlag. Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung des Autors wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.