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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wie nötig ist der Digitalpakt? Selbst an der "Smart School" streikt das WLAN
Mit dem Digitalpakt will der Bund deutsche Schulen technisch aufrüsten. Haben die das nötig? Ein Besuch in einer Berliner "Smart School" zeigt: Ja, und zwar dringend. Und Geld allein wird nicht reichen.
Die Probleme fangen an, als Nico Wirtz den Klassenraum betritt – wenige Minuten bevor die Schulglocke läutet. Noch ist der Rechner im Klassenzimmer damit beschäftigt, 135.309 Dateien zu kopieren. Während des Unterrichts zeigt der Bildschirm eine Fehlermeldung. Dann scheitern Wirtz' Schüler daran, mit ihren iPads die Lernanwendung zu starten. Und als letztes zeigt das Smart Board – die digitale Tafel – die Eingaben der Schüler nur verzögert an. "Und wir nennen uns eine Smart School", sagt ein Schüler ironisch.
Nico Wirtz ist 47 Jahre alt und arbeitet als Lehrer für Deutsch und Englisch am John-Lennon-Gymnasium (JLG) in Berlin. Er trägt den Titel "Koordinator für digitale Schulentwicklung". Denn das JLG ist eine "Smart School", ausgezeichnet vom Digitalverband Bitkom. Zusammen mit 20 anderen Schulen in Deutschland soll das JLG als Leuchtturm der Digitalisierung im Bildungsbereich dienen, als Leitbild für eine Schule, an der sich andere Einrichtungen orientieren können – eigentlich. "Verglichen mit anderen Ländern sind wir in Deutschland noch sehr rückständig", sagt Wirtz.
250 Megabit pro Sekunde für 900 Menschen
Ein Beispiel dafür sind die iPads: Apple-Produkte, nicht günstig in der Anschaffung, aber Wirtz erklärt, dass sie dank Apples Update-Politik eine lange "Nutzwertzeit" haben werden. 32 solcher Geräte kaufte die Schule vor einem halben Jahr – für knapp 800 Schüler. Laut Wirtz zu wenig: "Bei unserer Schülerzahl bräuchten wir drei bis viermal so viel", so der Lehrer.
Tatsächlich zeigt der Bildungsmonitor der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" von 2018, dass deutsche Schulen bei der technischen Ausstattung international im besten Fall im Mittelfeld liegen. Während in Ländern wie Estland Laptops oder Glasfaseranschluss in Schulen zur Standardausstattung gehören, musste das JLG sich ein Teil der Tablets mit der Hilfe des hauseigenen Fördervereins finanzieren: also mit Geld von Eltern und Spendern. "Fürs Internet hatten wir bis vor kurzem einen 16-Megabit-Haushaltsanschluss", sagt Wirtz. "Aktuell sind es 250 Megabit. Aber auch das reicht nicht für eine Schule mit 800 Schüler und 90 Kollegen."
Digitalpakt soll Schulen aufrüsten
Die Lösung für dieses Problem ist der Digitalpakt – jedenfalls ist das die Meinung der Politik. Mindestens 5 Milliarden Euro sollen Schulen für neue Technik innerhalb von fünf Jahre von Bund und Ländern bekommen. Runtergerechnet sind das etwa 137.00 Euro pro Schule, beziehungsweise 500 Euro pro Schüler, schreibt das Bundesministerium für Forschung und Bildung.
Für den Digitalpakt soll sogar das Grundgesetz reformiert werden. Das beschloss der Bundestag im November 2018. Zunächst scheiterte die Reform am Widerstand der Länder. Sie sahen durch die Änderung ihre Schulhoheit in Gefahr. Am Mittwoch einigten sich alle Parteien aber auf einen Kompromiss. Der sieht vor, dass der Bund Personal für besondere Aufgaben befristet finanzieren kann – zum Beispiel einen Systemadministrator. Auch der Bundestag stimmte der Entscheidung am Donnerstag zu. Der Kompromiss muss noch vom Bundesrat abgesegnet werden.
Trotz allem ist Wirtz von der monatelangen Diskussion etwas genervt: "Dieser Bildungsföderalismus gehört komplett abgeschafft", sagt der Lehrer. "Um im internationalen Vergleich nicht restlos abgehängt zu werden, sind drastische Reformen im Bildungssystem unumgänglich." Auch die Mehrheit der Deutschen sieht den Bildungsföderalismus kritisch. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov.
Geld für Technik allein reicht nicht
Pädagoge Michael Kirch sieht das ähnlich: "Das Digitale macht grenzenloses Lernen und Lehren möglich und notwendig", sagt Kirch. "Solange wir in Deutschland lokal denken und Kooperation behindern, werden wir nicht wirklich weiterkommen." Kirch ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik an der der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Er betont, dass Schulen zunächst darüber nachdenken sollten, wie sie das Lehren und Lernen vor dem Hintergrund der Digitalität gestalten wollen, bevor sie an konkrete Anschaffungen denken. "Ich würde davon abraten, mit der Gießkanne Technik auszuschütten, wenn vorher keine Konzepte entwickelt werden", sagt der Pädagoge. "Am Ende stecken wir einen Haufen Geld in Technik, die irgendwann im Keller verschwindet."
Dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern erst spät mit der Digitalisierung anfängt, findet Kirch nicht so tragisch: So haben wir die Chance, von Erfahrungen und Fehlern der anderen zu lernen und könnten dadurch einiges an Zeit aufholen." Allerdings hält Kirch es für notwendig, dass in allen Phasen der Lehrerbildung in die Ausbildung von Lehrkräften investiert wird.
Ein Medienkoordinator für jede Schule
Lehrer Wirtz bestätigt, dass während des Lehramtsstudiums zu wenig der Umgang mit neuen Medien gelehrt wird. Er hatte vor seinem Beruf als Lehrer in der freien Wirtschaft gearbeitet. Vor knapp sechs Jahren kam er ans JLG, während der Ausbildung habe er nur ein einziges Mal ein Smart Board gesehen: "In puncto Digitalisierung ist seit Ende meiner eigenen Schulzeit in den achtziger Jahren gesellschaftlich so viel passiert", sagt Wirtz. "Ich war entsetzt, wie wenig davon in der Schule angekommen war."
Der 47-Jährige betont immer wieder, dass jede Schule einen Medienkoordinator brauche. Der würde garantieren, dass die neuen Medien richtig an der Schule eingesetzt werden. "Bisher schneiden sich das die Schulen aus den Rippen – wenn überhaupt", so Wirtz. "Sie beauftragen dafür Lehrkräfte, die das nicht gelernt haben und geben ihnen meistens zu wenig Entlastung, um wirklich etwas auf die Beine stellen zu können."
Krankmelden per E-Mail
Wirtz selbst wurde vor knapp zwei Jahren damit beauftragt, die Website der Schule zu überarbeiten. Das Projekt wuchs schnell in alle Richtungen und innerhalb kürzester Zeit hatte das JLG ein Gremium aus Lehrern, Eltern, Schulleitung und Schülern, das sich mit der Digitalisierung an der Schule beschäftigte.
Den Titel "Smart School" hat die Schule vor allem für ihr "gemeinschaftliches Lernkonzept" verliehen bekommen, sagt Wirtz. Das JLG nutzt verschiedene Lernplattformen, die die Zusammenarbeit zwischen Schülern und Lehrern erleichtern. So können Lehrer Unterrichtsmaterialen digital austauschen oder an Schüler verteilen. Auch lassen sich bestimmte Tests automatisch auswerten, oder Schüler-Antworten auf Smartboards abbilden. Zudem können Schüler mit Lehrern chatten oder den aktuellen Stundenplan online abrufen. "Das Papierklassenbuch haben wir vor eineinhalb Jahren abgeschafft", sagt Wirtz.
Krankmelden geht am JLG per E-Mail. Nur zur Not sollen Eltern oder Lehrer anrufen, schreibt das JLG auf seiner Website. Der Vorteil laut Wirtz: Nachdem das Sekretariat die Krankmeldung ins System eingegeben hat, erhalten Lehrer sie auf ihr Tablet oder Smartphone. So sparen sie sich den Gang zu ihrem Fach. "Und wer nachts schon merkt, dass es ihm nicht gut geht, kann sich per Mail krankmelden und ausschlafen."
"Ein Flickenteppich an Geräten"
Trotz dieser Fortschritte hapert es am JLG vor allem im Technik-Bereich. So sagt Schülerin Inas: "Wenn wir mit den Tablets arbeiten, stürzt das WLAN immer wieder ab." Und Schüler Leo sagt: "Wenn man in einen Raum kommt, ist es gefühlt eine 50:50 Chance, ob das Smart Board funktioniert".
Wirtz zeigt den Computerraum: Sichtlich veraltete Rechner liegen auf dem Tisch, auf jedem steht ein Monitor. Manche Monitore, Mäuse oder Tastaturen sind schwarz, andere weiß. "Wie die meisten öffentlichen Schulen haben wir einen Flickenteppich aus Geräten", sagt Wirtz. "Wir kommen günstig an Rechner, die irgendwo ausgemustert wurden. Den Anforderungen an moderne Netzwerklösungen kann man damit kaum nachkommen". Zwar seien neue Computer bestellt, jedoch verzögere sich die Lieferung.
Vom Digitalpakt verspricht sich Wirtz, dass die Schule mit dem Geld längst geplante Konzepte endlich umsetzen kann. "Wobei man dazu sagen muss: Diese fünf Milliarden sind auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein."
Schule muss sich an gesellschaftliche Realität anpassen
Doch es gibt auch Menschen, die digitale Medien an Schulen kritisieren. Wirtz berichtet beispielsweise von manchen Eltern, die im Schulgremium dazu gern Studien zitieren. Er sieht es darum als Pflicht der Schule, den Schülern den richtigen Umgang mit den digitalen Medien beizubringen. Das sei im Medienbildungskonzept des JLGs vorgesehen. Es soll garantieren, dass Schüler "die Geräte beherrschen, aber sich nicht von ihnen beherrschen lassen."
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Digitale Medien aus dem Schulalltag zu verbannen, sieht Wirtz als falschen Weg: "Die Geräte sind Teil unserer Gesellschaft und es wäre weltfremd, sie aus dem Unterricht auszuschließen", sagt der Lehrer. "Dann werden die Kinder vollkommen unvorbereitet in eine Welt geschmissen, in der die Geräte eine immense Rolle spielen. Das wäre meines Erachtens eine Versündigung gegenüber den Schülern."
- Eigene Recherchen
- Förderverein des John-Lennon-Gymnasiums
- Spiegel Online: "Digitale Infrastruktur in Deutschland: Elf Schüler müssen sich einen PC teilen"
- ARD Markt: "Digitale Schule - Deutschland und Estland im Vergleich"
- BMfBF: "Wissenswertes zum Digitalpakt"