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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zoff um "Queen of Drags" Warum Heidi Klums neue Show politischen Sprengstoff bietet
Die einen feiern die Queens, die anderen beschimpfen Heidi Klum: Woher kommt die Aufregung um die TV-Show "Queen of Drags"? Das liegt auch an der Geschichte der Drag-Subkultur.
"Dragqueen günstig kaufen!" Das schlägt mir eine Ebay-Anzeige ganz oben in den Suchergebnissen vor, als ich die neue Castingshow von Heidi Klum google. Ist es jetzt also so weit: legaler Menschenhandel, ganz bequem im Online-Kaufhaus? In den letzten Wochen wurden Stimmen laut, die meinten, der TV-Sender ProSieben habe genau das getan: sich ein paar Queens samt opulenten Outfits für ein neues Sendeformat gekauft, sie nach Klums Pfeife tanzen lassen und aus der Drag-Kultur ein Vehikel für Werbekunden und Einschaltquoten gebastelt.
Die Vorwürfe gegen "Queen of Drags" kommen nicht aus dem luftleeren Raum. Sie haben eine lange Vorgeschichte in einer genuin queeren Subkultur. Wenn Dragqueens Geschlechterrollen radikal überzeichnen und persiflieren – mit Unmengen an Make-up, Turmperücken, selbst genähten Kostümen und abgeklemmten Genitalien – sorgen sie damit für ebenso viel Glamour wie politischen Sprengstoff. Meist sind sie schwule Männer, aber es gibt auch Heteros in Drag, Frauen oder Personen zwischen den Geschlechtern.
Sich selbst behaupten und neu erschaffen
In Zeiten, in denen Homosexualität nicht bloß gesellschaftlich verpönt, sondern gesetzlich verboten war, warfen die Queens sich vor allem unter ihresgleichen in Schale. Die sogenannte Mehrheitsgesellschaft musste draußen bleiben. Das schwingt heute noch in jeder Drag-Performance mit: der Wille, sich selbst zu behaupten und immer wieder neu zu erschaffen, weil einem der Rest der Welt das Recht auf Existenz, Teilhabe und eine eigene Stimme abspricht.
Vor genau 50 Jahren hat sich dieser Konflikt in den "Stonewall Riots" entladen. 1969 wehrte sich in der Christopher Street in Manhattan eine Gruppe von Dragqueens gegen willkürliche Verhaftungen durch die Polizei – und löste damit die wichtigste Protestwelle der queeren Community aus, an die heute regelmäßig mit den CSD-Paraden in verschiedenen Städten weltweit erinnert wird.
Meilenstein in Sachen Drag?
Im Jahr des Stonewall-Jubiläums holt also Heidi Klum Dragqueens ins deutsche Privatfernsehen. Ausgerechnet die Moderatorin von "Germany's Next Topmodel", einem Hardcore-Trainingscamp für konventionelle Hyper-Weiblichkeit, schmückt sich mit dem Glamour, mit dem eine marginalisierte Gruppe von Menschen um Anerkennung kämpft. Aufregung und Proteste waren da vorprogrammiert.
Andererseits braucht Drag immer eine Bühne. Sich allein vor dem Spiegel in einen Fummel werfen zählt nicht. Ohne Publikum ist Drag nichts, und dieses Publikum ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Die amerikanische Castingshow "RuPaul's Drag Race" hat die Kultur der Queens in die Massenmedien gebracht. Die Sendung ist ein globaler Erfolg und wird von der queeren Community gefeiert. Das können wir auch, muss man sich bei ProSieben gedacht haben.
Jetzt schaut plötzlich die ganze Republik zu
"Wir setzen hier gerade einen Meilenstein in Sachen Drag", behauptete Olivia Jones als Gastjurorin in der ersten Folge von "Queen of Drags". Jones ist eine der bekanntesten deutschen Queens, und ja, sie hat wohl recht. Hier ändert sich etwas. "Queen of Drags" ist keine Show, die sich an die Protagonistinnen und Eingeweihten richtet. Jetzt schaut plötzlich die ganze Republik zu.
Eine Castingshow im TV ist das genaue Gegenteil eines geschützten Raums. Dass sich ein Privatsender nicht als Speerspitze von Emanzipation und Diversifizierung versteht und lieber ein attraktives Werbeumfeld für Kosmetikkonzerne schafft, dürfte niemanden überraschen. Die gute Nachricht ist allerdings, dass Klum sich vergleichsweise zurückhält und neben ihren queeren Co-Hosts fast verschwindet. Vor allem Conchita Wurst – sie gewann 2014 als erste Sängerin in Drag und mit Vollbart den Eurovision Song Contest – hat zur Thematik von Aneignung und Ausverkauf schlaue Dinge gesagt und stellt Klum auch in Sachen Style in den Schatten.
Kings statt Queens!
Im Mainstream wahrgenommen zu werden ist aber etwas anders, als Mainstream zu sein. Menschen, die ihr Leben lang Anfeindungen und Diskriminierung ausgesetzt sind, dürfen durchaus einige kritische Fragen stellen, wenn plötzlich das ganze Land ein paar Galionsfiguren ihrer Community einmal pro Woche beim Schminken über die Schulter schaut. Man kann Klum doof und komplett fehlbesetzt finden. Man kann ihr aber auch dabei zusehen, wie sie mit absurden Make-up-Exzessen dem überperfekten Frauenbild nacheifert, das Männer vorführen, die Frauen imitieren. Und also seinen oder ihren Spaß daran haben, wie sie auf verquere Art selbst Drag performt.
Klum könnte die Diskussion um Aneignung auch noch weiter auf die Spitze treiben. Indem sie sich zum Beispiel einen Nadelstreifenanzug besorgt und einen Schnurrbart ins Gesicht klebt. Denn Drag geht natürlich auch andersrum: Frauen, vor allem Lesben, performen in Herrengarderobe übertriebene Machoposen und zerlegen dabei gängige Vorstellungen von Männlichkeit. Davon sieht man im Fernsehen, aber auch im Kino und in der Popmusik deutlich weniger.
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Drag Kings sind längst nicht so sichtbar wie ihre Schwestern, die Queens. Aber man fragt sich angesichts des Siegeszugs von Drag, wann auch sie endlich so weit ins öffentliche Bewusstsein vordringen. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt. Frau Klum und ProSieben: Plant eure nächste Staffel doch als "King of Drags"! In der Show wird es oft genug betont: Es geht um Sichtbarkeit, es geht um Respekt. Und da sind neben den Queens jetzt auch die Kings an der Reihe.
Über den Autor: Arno Raffeiner ist Kulturjournalist und lebt in Berlin. Er war bis 2018 Chefredakteur von "Spex – Magazin für Popkultur" und arbeitete zuvor für diverse Medien als Autor und Redakteur für Musik, Kino und Literatur. Er beschäftigt sich mit allen relevanten Themen quer durch den Kulturbereich und mit dem digitalen Alltag.