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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Polizeiruf 110" Warum sind Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe?
Mord verjährt nicht. Und doch kann hier ein überführter Mörder nicht belangt werden. Das treibt die Ermittler in Rostock schier in den Wahnsinn, und auch die Zuschauer müssen sich fragen: Warum ist Recht und Gerechtigkeit nicht immer das Gleiche?
Der Rostocker Fall hat einen realen Hintergrund, den Mord an der Schülerin Frederike von Möhlmann von 1981. Im "Polizeiruf" geschieht die Tat 1988, nach dem Bruce-Springsteen-Konzert in Ost-Berlin; "die ganze DDR-Jugend war da", erinnert sich das Ermitterteam. So wie auch die Schülerin Janina. Nach der Rückfahrt mit dem Zug wird sie vergewaltigt und ermordet. Kommissariatsleiter Henning Röder (Uwe Preuss) hatte den Mord bearbeitet, es gab einen Verdächtigen, doch dieser wurde frei gesprochen.
Dieser "Polizeiruf" läuft im Rahmen der Themenwoche "Gerechtigkeit" in der ARD. Und so geht es hier nicht um die Suche nach dem Mörder, sondern um die Suche nach Gerechtigkeit. Denn laut Gesetz darf ein einmal Verurteilter in derselben Sache nicht erneut angeklagt werden. Die Gründe dafür liegen in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Wenn den Nazis Strafen nicht hoch genug erschienen, wurden Urteile aufgehoben und schärfere Strafen verhängt. Um das zu verhindern, kam der Paragraph ins Grundgesetz.
Und so nützt es nichts, dass Katrin König (in Rage: Anneke Kim Sarnau) den Fall erneut aufrollt und sich dank moderner DNA-Analyse herausstellt: Der Verdächtige war wohl doch der Mörder. Ein Albtraum für die Ermittler. Denn der Mörder Guido Wachs (Peter Trabner) weiß das alles auch. König und Buckow (voller Ingrimm: Charly Hübner) nehmen ihn in die Zange, und versuchen verzweifelt, eine Verbindung zwischen Wachs und anderen Morden aus der Zeit herzustellen.
Am Ende verfälscht Katrin König Beweismittel eines anderen Falles, um ihn zu belasten. Ein ungeheuerlicher Rechtsbruch – doch noch nicht das Ende dieses "Polizeirufs". Bukow, von dem man nie so genau weiß, ob er König liebt oder verachtet, versucht den Betrug zu vereiteln. Und das Drehbuch (Anika Wangard und Eoin Moore) setzt noch einen drauf: Nur wer genau zuhört bekommt mit, dass die DNA-Probe tatsächlich unbrauchbar wurde – doch Kommissariatsleiter Roeder vertuscht dies. Er lässt den Beschuldigten festnehmen, wohl wissend, dass er ein Unrecht begeht, "für Janina". Aber kann Unrecht dazu beitragen, Gerechtigkeit herbeizuführen? t-online.de macht den Faktencheck.
Der Faktencheck
Fragen an Martin Kaluza, Berlin, Journalist und Philosoph, der über das Thema Gerechtigkeit promovierte. In seiner Arbeit beschrieb er, wie wichtig Debatten über Gerechtigkeit für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft sind: Sie sind so etwas wie permanente Wartungsarbeiten am Zusammenleben.
t-online.de: Martin Kaluza, schon Kinder können erbost ausrufen: Das ist aber nicht gerecht! Woher rührt dieses grundsätzliche Gerechtigkeitsempfinden beim Menschen?
Martin Kaluza: Weil wir aufeinander angewiesen sind. Nur sehr wenige Menschen leben komplett allein für sich – und wenn, ist das kein Spaß. Wir leben in Gruppen: in der Familie, im Dorf, in der Stadt, am Arbeitsplatz, als Bürgerinnen und Bürger in einem Staat. Dazu trägt jeder etwas bei und jeder erhält etwas zurück. Die Frage nach Gerechtigkeit ist im Kern die Frage, wer welche Pflichten zu tragen hat, welchen Nutzen er beanspruchen darf und wie weit die Freiheit des Einzelnen geht.
Ist das ur-menschlich oder zivilisatorisch erworben oder doch gesellschaftlich geprägt?
Es ist zumindest ur-menschlich, in Gemeinschaften zu leben und zu kooperieren. Dass überhaupt um Gerechtigkeit gestritten wird, ist eine Voraussetzung dafür, Willkür zu erkennen und einzudämmen. Wir messen viele Dinge am Maßstab der Gerechtigkeit: Verbrechen und Bestrafung, Chancen auf Bildung, Einkommensunterschiede. Und Gerechtigkeit ist kein exklusiver Klub: Jeder darf mitreden. Wer nicht mitreden darf, fühlt sich nicht mehr zugehörig. Deswegen gehört es zu den Grundsätzen eines Strafprozesses, dass alle Seiten gehört werden und dass das Gericht seine Urteile begründen muss.
Im "Polizeiruf" geht es um einen Fall, bei dem Recht und Gerechtigkeit eklatant auseinanderklaffen.
Im Idealfall sollte zwischen Recht und Gerechtigkeit kein Blatt Papier passen. Gesetze lassen sich daran messen, ob sie gerecht sind. Und wenn sie es nicht sind, lassen sie sich ändern. Ein Beispiel: Lange hatten Frauen in vielen Ländern kein Wahlrecht. Diese Ungerechtigkeit wurde inzwischen flächendeckend abgeschafft.
Im "Polizeiruf" wurde ein Mann des Mordes angeklagt und frei gesprochen. Später kommt heraus, er war es. Aber er darf nicht noch einmal angeklagt werden – ist diesem Dilemma philosophisch beizukommen?
Zum Dilemma wird dieser spezielle Fall, weil klar ist, dass das Gericht anders entschieden hätte, wenn die neuen Beweise zum Zeitpunkt des ursprünglichen Prozesses vorgelegen hätten. Das Gesetz verbaut dem Gericht den Weg, ein Urteil zu korrigieren, das sich rückblickend als falsch erwiesen hat. Das heißt: Das Gesetz, das ja den Sinn hat, willkürliches Neuaufrollen von Fällen zu verhindern, hat einen unerwünschten Nebeneffekt.
Die TV-Ermittler verzweifeln geradezu an dieser Situation, auch aus menschlich-moralischen Gründen. Nachvollziehbar?
Absolut. Zu dem rechtlichen Dilemma kommt ja ein persönliches hinzu: Die Ermittler können beweisen, wer der Mörder war, doch ihr Wissen bleibt folgenlos. Der einzige Ausweg wäre, dass das Gesetz vom Gesetzgeber geändert wird. Und darauf haben die Ermittler keinen Einfluss. Sie müssen also tatenlos zusehen.
Schließlich fälscht eine Ermittlerin Indizien. So kann der Mörder wegen eines anderen Falles verurteilt werden – das Recht wurde gebrochen, aber Gerechtigkeit herbeigeführt. Ist das nun gerecht?
Da würde ich widersprechen. Wenn der Mörder wegen eines Verbrechens verurteilt wird, das er gar nicht begangen hat, ist diese Verurteilung nicht gerecht. Noch dazu würde ja dadurch verhindert, dass in dem anderen Fall der wahre Mörder gefunden wird. Wenn der zweite Fall dem Mörder aus dem ersten Fall in die Schuhe geschoben wird, heißt das ja, dass der Mörder aus dem zweiten Fall frei herumläuft. Was fangen die Ermittler dann damit an? Dem zweiten Mörder einen dritten Fall in die Schuhe schieben?
Es geht noch weiter: Ihr Kollege sieht sich daraufhin nicht mehr verpflichtet, sich ans Gesetz zu halten, und macht unsaubere Hinterhof-Geschäfte. Ist das Gerechtigkeitsgefühl erstmal zerbrochen, wird dann alles egal?
Im Gegenteil. Wenn bei einem Beteiligten das Gerechtigkeitsgefühl zerbrochen ist, ist es umso wichtiger, dass die anderen Menschen Gerechtigkeit ernst nehmen und dass der Rechtsstaat grundsätzlich funktioniert.
- "Polizeiruf 110" vom 11. November 2018