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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der "Tatort"-Faktencheck Können Horror-Szenen einen wirklich wahnsinnig machen?
Kommissar Borowski wird zu Freunden auf einen Landsitz eingeladen, aber trotz der Landlust-Kulisse endet alles wenig idyllisch. Ein alter Mord, ein frischer Mord, und beinahe noch ein Selbstmord – was haben Geister damit zu tun?
Vor vier Jahren verschwand die Frau von Borowskis Freund Frank Voigt (undurchsichtig: Thomas Loibl). War es Mord? Der Fall blieb ungeklärt, eine Leiche wurde nie gefunden. Und so diniert Borowski mit pinkfarbenem Hemd an der gediegenen Gartentafel als wärs in der Provence mit jenem Freund, dessen beiden fast erwachsenen Töchter und der neuen, jungen Ehefrau Anna (verhuscht: Karoline Schuch).
Sie bittet den Kommissar, über Nacht zu bleiben. Ganz offensichtlich hat sie Angst, oder Angstzustände, oder doch Wahnzustände? "Dieses Haus will mich umbringen", raunt sie. Irgendetwas oder irgendjemand geistert nachts herum. Die Zuschauer können sich zusammenreimen, dass keine übersinnlichen Phänomene die Ursache sind. Aber die psychisch Kranke kann das nicht. Wer manipuliert sie und nutzt ihre Schwäche aus, das ist die Frage.
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Ein Geist, der hier sicherlich heraufbeschworen wird, ist der von Rebecca – auch in Hitchcocks Thriller von 1940 wird die Zweitfrau eines Witwers beinahe in den Selbstmord getrieben. Um Geister geht es im Kieler "Tatort" allerdings weniger, eher um Geheimnisse: Wer hatte wann was mit wem?
Einen starken Auftritt legt Borowskis neue Ko-Ermittlerin Mila Sahin (Almila Bagriacik) hin, aber leider eben nur einen. Nach der Boxsack-Szene ermittelt sie nur noch neben dem Kommissar (selbstgefällig: Axel Milberg) her (Buch: Marco Wiersch). Ist doch zu hoffen, dass in Zukunft ihre Rolle weiter gestärkt wird und sie nicht wie ihre Vorgängerin Sibel Kekilli wieder verschwindet.
Was aber steckt hinter den Geistern? Sind die Psychosen der jungen Frau daran schuld und was würde wirklich passieren, wenn einer Kranken über Nacht die Medikamente entzogen werden? t-online.de macht den Faktencheck.
Der Faktencheck
Fragen an Dr. med. Dr. phil. Jann E. Schlimme, Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, spezialisiert auf die psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung von Menschen mit Psychosen mit eigener Praxis in Berlin.
t-online.de: Eine Frau erzählt, dass sie als junges Mädchen die Leiche ihres Bruders gefunden hat, der sich umgebracht hatte. Danach entwickelt sie eine paranoide Schizophrenie – ist das plausibel?
Jann E. Schlimme: Eine gewisse Anfälligkeit für Psychosen vorausgesetzt können einzelne Ereignisse durchaus zum letzten Anstoß für eine Psychose werden. Hierbei spielen typischerweise extrem schmerzliche Ausgrenzungs- und Versagenserfahrungen vor dem Hintergrund intensivster Sehnsüchte von Miteinander und Dazugehören eine Rolle. Diese Situationen sind für den Betreffenden wie eine Zwickmühle nicht glatt lösbar. Er steckt in diesem Dilemma von Dazugehören-wollen und irgendwie nicht können fest.
Wann kann sich so etwas einstellen?
Klassisch für eine solche Konstellation wäre zum Beispiel ein äußerst unglückliches Verliebtsein, das so stark ersehnt wird, dass sich die betreffende Person dennoch reinsteigert. Das wäre eigentlich sehr beschämend und extrem schmerzhaft, aber durch das Weggleiten in das psychotische Erleben entfällt gewissermaßen dieser Schmerz und diese Scham - die Lebenswelt gewinnt eine andere, dramatisch ängstigende, selten auch mal beglückende Qualität.
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Was passiert da in der Psyche?
Zugleich ist in der Person dieses potentiell beschämende und schmerzhafte Ereignis ausgeblendet bzw. umgedeutet. Im psychotischen Erleben scheint sich dann alles auf den Betreffenden zu beziehen und ungewöhnliche hintergründige Bedeutungen zu gewinnen. So wird beispielsweise eine herzförmige Wolke am Himmel zum Zeichen, dass die ersehnte Person einen eigentlich doch liebt.
Wie wirkt sich das weiter aus?
Im psychotischen Erleben verlieren sich Selbstverständlichkeiten, die wir normalerweise in unserer Lebenswelt nicht bezweifeln würden. Wie zum Beispiel, dass die Nachbarn nicht hauptamtlich über einen reden und einen belauschen. Ein solches psychotisches Erleben dehnt sich unter ungünstigen Bedingungen immer weiter aus und kann dann die ganze Lebenswelt betreffen. Das ist natürlich für die betreffende Person furchtbar anstrengend. In diesem Erlebnisrahmen kann letztlich auch Stimmenhören oder Geistersehen vorkommen. Eine Geschwisterbeziehung müsste schon außergewöhnlich und besonders sein, damit dies zum Anlass einer Psychose werden kann.
Sie erzählt weiter, dass es ihr gut gehe, seit sie Psychopharmaka nimmt. Kann das zutreffen?
Psychopharmaka allein können eine solche psychische Erkrankung nicht heilen. Aber sie können bestimmte Symptome einer Psychose wegmachen", insbesondere dieses stete Erleben, dass sich alles auf einen beziehe. Stimmen und Geister werden dann bei vielen Medikamenten-Nutzern leiser oder seltener oder verschwinden sogar ganz.
Und das funktioniert immer?
Nein, dies ist nicht bei allen Nutzern so – und vor allem reichen die Medikamente allein nicht aus. Es braucht das ganze soziale Netz, oder genauer gesagt: Es braucht ein passgenaues soziales Netz, um zu genesen. Hier sind neben den Angehörigen eben auch die Profis mit ihren verschiedenen therapeutischen Angeboten wie Psycho-, Ergo- oder Soziotherapie gefragt.
Jemand, der ihr Böses will, vertauscht aber die Psychopharmaka mit Ibuprofen. Was würde das bewirken?
Die Folge wäre ein heftiger Neuroleptika-Entzug, der innerhalb von Tagen bis ein bis zwei Wochen einsetzt. Durch die lange Nutzung haben sich die neuronalen Netzwerke an die stete Anwesenheit der Substanz gewöhnt und es haben sich neue Gleichgewichte gebildet. Fällt die Substanz plötzlich weg, entstehen dramatische Ungleichgewichte. Man spricht dann von einem Entzugs- oder Absetzssyndrom. Ein häufiges, besonders gefürchtetes Entzugsphänomen ist eine Psychose, die von der ursprünglichen Psychose klinisch eigentlich nicht unterschieden werden kann.
Wie geht man also sonst vor?
Ich empfehle meinen Patienten immer sehr sehr langsame Reduktionsschritte bis zu einer individuellen Niedrigstdosis - das kann übrigens auch mal Null sein. Da geht es um 10 Prozent alle zwei bis drei Monate. Aber selbst dann gibt es herausfordernde Entzugszeichen wie Unruhe, Schlafschwierigkeiten und eine größere Empfindsamkeit. Ein Patient hat das mal sehr treffend als einen "erhöhten Scheuklappenbedarf" beschrieben.
Die Übeltäterin führt der psychisch Kranken nächtliche Horror-Szenarien vor, die diese für real hält – ist auch das denkbar?
Warum nicht. Vermutlich würden wir alle früher oder später ins Zweifeln kommen, wenn wir jede Nacht solche Szenarien erleben würden.
In diesem "Tatort" ist von mehreren Selbstmorden die Rede. Wie gefährlich ist es, so etwas in einer Sonntagabend-Sendung darzustellen? Ist zu befürchten, dass Selbstmordgefährdete so letzte Tipps bekommen?
Letzte Tipps glaube ich sind da nicht zu befürchten. Was eher einen Sog ausüben kann, sind detaillierte und dadurch nachvollziehbar erscheinende Motivlagen für Suizidentscheidungen. Wobei im Fall der betreffenden Person ja zunächst erstmal verständlicherweise eine ausweglose Situation gegeben ist – sie wird ja in diese ohnmächtige Verzweiflung regelrecht hineingetrieben. Solche Situationen können durch geeignete Hilfsangebote üblicherweise vermieden werden. Manchmal reicht da ja wirklich das berühmte Krisentelefon.
Hinweis: Falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.
- "Tatort"-Folge vom 2. September