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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der München-"Tatort" Wenn die Liebe den Verstand ausschaltet
Wie viel wissen wir eigentlich von dem Menschen, den wir lieben, mit dem wir das Bett und unser Leben teilen? Kennen wir ihn richtig? Wollen wir ihn überhaupt richtig kennen? Oder lebt es sich leichter mit der Unwissenheit?
Wer liebt, denkt oft nicht klar. Das Herz macht Sprünge und der Verstand liegt brach. Die Natur macht uns zu Untertanen der Evolution. Wir sollen uns schließlich vermehren, das Leben will fortbestehen. Doch die moderne Existenz hat so ihre Tücken. Es geht nicht nur mehr um die Arterhaltung. Es geht um Sinn und vor allem geht es um Gefühle. Wir wollen nicht allein sein, wir wollen gesehen werden.
Thomas Jacobi (Martin Feifel) gibt den Frauen, was sie begehren. Sex, Liebe, Zuneigung. Er ist erfolgreicher Architekt, wortgewandt und extrem beherrscht. Der Archetyp eines verständnisvollen Begleiters. Jacobi ist so voller Lebensdrang und Leidenschaft, dass ihm eine Frau nicht genug ist. Nein, es müssen fünf sein! Sein Liebes-Quintett gerät ins Wanken, als eine der Damen vor ihrem Haus tot von einem Nachbarn in der Garageneinfahrt entdeckt wird. Die Kommissare Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) übernehmen die Ermittlungen und schütteln Jacobis Wertesystem ordentlich durcheinander.
Jeder lügt und jeder liebt
Der neue Münchner "Tatort": "Die Liebe, ein seltsames Spiel" jongliert mit Klischees. Was würde eine Frau alles tun, um einen starken, sie begehrenden Mann an ihrer Seite zu haben? Ihm ein Alibi geben, auch wenn er vielleicht ein Mörder ist? Ihn mit diversen Nebenbuhlerinnen teilen, nur um nicht einsam zu sein? Regisseur Rainer Kaufmann hat nach eigener Aussage das Geheimnis der Frauen noch nicht gelüftet.
Dennoch traut sich sein Film viel. Frauen sind hier hörige Geschöpfe, die für eine breite Schulter Vieles hergeben: ihre natürlichen Instinkte, ihr unabhängiges Denken. Wenn Architekt Jacobi sein Lügengeflecht über seine Weibchen ausbreitet, schlucken sie nur allzu bereitwillig seine Geschichten: "Ich lasse mich nicht einsperren, von niemandem!" - und lieben ihn dennoch.
Die Ausnahme bildet Julia (Anna Schäfer). Sie ist, wie Jacobi "poly", die Kurzform von
Polyamorie, ein Lebensmodell, bei dem eine Person mehrere Menschen zur selben Zeit liebt.
Für Jacobi geht diese Liebe Hand in Hand mit der Lüge. Seine Frauen folgen, bewusst oder unbewusst, seinem Vorbild. Doch als das gutbesetzte Liebeskarussell auch den zweiten Fahrgast herausschleudert und Dr. Slowinski (Juliane Köhler) ermordet wird, erhöhen Batic und Leitmayr den Druck.
Die Mörder aus der zweiten Reihe
Die Kommissare, selbst von Hormonwallungen abgelenkt - Batic hat eine Affäre mit einer verheirateten Frau (Viola Wedekind) und Leitmayr muss den Kuppelversuchen seines Assistenten Kalli (Ferdinand Hofer) mit dessen Mutter (Wookie Mayer) widerstehen - ziehen letztlich doch die richtigen Schlüsse. Der frauenverzehrende Architekt ist unschuldig, zumindest an den Morden.
Die Täter stammen aus der zweiten Reihe. Jacobis Kollegin Anna (Genija Rykova) sah ihren Chef bedroht und tötete das zweite Opfer aus fehlgeleiteter Loyalität. Nicht jedoch, ohne dabei ebenfalls den Gestus eines sich unterordnenden Weibchens anzunehmen. Womit die Evolution wieder auf den Plan tritt. Das Alphamännchen Jacobi übt eine magische Kraft auf das schwache Geschlecht aus. Auch wenn er kein Mörder ist, ist er dennoch Täter.
Das Tier in uns allen
Das Motiv des ersten Mordes ist um Einiges perfider und hat mit dem polyamorösen Umfeld des Architekten nicht das Geringste zu tun. Hier ist er, neben der Ermordeten, wirklich das Opfer.
André Schneider (Winfried Frey), der Nachbar, der vorgab, die Tote entdeckt zu haben, ist der Mörder. Fasern eines Kissens überführen den unscheinbaren Mann. Der Grund seiner Tat ist so abscheulich wie unvorstellbar: Er benötigte für sich, seine Frau und seine Kinder eine größere Wohnung. Noch bevor der Leichnam richtig kalt war, hatte er sich schon als Nachmieter beworben. Wohnraum in München ist schließlich knapp und teuer.
Und so schließt sich der Kreis, denn in einer Welt, in der die Menschlichkeit verkümmert, übernimmt das Tier die Kontrolle. Empathie und aufrechte Gefühle stören da nur. Liebe, Leben, Zusammenhalt - alles egal. Hauptsache das "Ich" überlebt.