Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Jauchs Fußstapfen bei RTL Noch nie wurde er so vermisst
Günther Jauch zu ersetzen ist eine undankbare Aufgabe. RTL hat sie nicht gemeistert. Stattdessen wurde der Jahresrückblick zur Fremdschäm-Parade.
RTL muss sich an diesem Abend wie ein Kind an Silvester gefühlt haben. Nicht wie eines, das mit strahlenden Augen das bunte Feuerwerk am Himmel bestaunt. Eher wie eines, das wartet und wartet und wartet. Darauf, dass der Knaller endlich zündet. Dieser teure, extra eingekaufte Superböller im Doppelpack. Aber er stellt sich als Blindgänger heraus – und verpufft zu einer kostenintensiven Fehlinvestition.
Kein Gag-Feuerwerk, als Karl-Theodor zu Guttenberg sich selbst als "politischen Lackaffen" anmoderiert. Keine Kameraeinstellung, die nicht offenbart, wie steif der ehemalige Verteidigungsminister als Moderator wirkt. Kein Gespräch von Thomas Gottschalk ohne joviale Note. Dieser RTL-Jahresrückblick 2022 machte klar, wie gut Günther Jauch das Format 26 Jahre lang moderiert hat.
Die Fußstapfen von Jauch sind zu groß
Dabei hat der nie alles perfekt gemacht. Jauch kann fernab seines eingeübten "Wer wird Millionär?"-Heimspiels manchmal seltsam deplatziert distanziert wirken. Doch es ist wie so oft: Menschen sehnen sich nach dem Altbekannten, dem Bewährten. Insofern hat es das neue Duo aus zu Guttenberg und Gottschalk schwer bei "Menschen, Bilder, Emotionen". Vor allem der Beginn zeigt, wie groß die Fußstapfen von Jauch sind.
Die Anmoderation des Duos scheitert an der fehlenden Teamchemie. Anstatt sich den Ball zuzuspielen, schießen sich Gottschalk und zu Guttenberg mit ihren Sätzen auf unangenehme Weise ab. Eine Fremdschäm-Parade entsteht, peinliche Pausen zwischen den Gesprächsteilen inklusive. Während Gottschalk offenbar den gestandenen Showmaster-Onkel geben soll, spielt zu Guttenberg neben ihm den frechen Neuen.
Das Konzept hat Schwächen. Aber wären telegene Persönlichkeiten auf der Studiobühne: Sie würden jede noch so doofe Idee einer Fernsehredaktion überstrahlen. Nur: Das passiert nicht. Als Thomas Gottschalk auf die notorisch kritischen Twitter-Zuschauer anspielt und meint, diese werden schon "ihre Stifte spitzen für den Shitstorm", klärt Karl-Theodor zu Guttenberg auf: "Du bist alt geworden. Die Twitter-Gemeinde spitzt schon lange keine Stifte mehr."
Flache Witze und unangenehme Lacher
Es ist nach der "Lackaffen"-Fehlzündung die nächste wirkungslose Pointe. So geht es weiter. Als zu Guttenberg einen Mann vorstellt, der mit dem 9-Euro-Ticket 125 Städte besucht hat, kündigt er einen "Kalauer" an – und liefert: "Sie haben das 9-Euro-Ticket in vollen Zügen genossen." Der Jahresrückblick kommt nicht in Fahrt. Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation, Tod der Queen, Proteste im Iran und Naturkatastrophen tun ihr Übriges: Es ist eine niederschmetternde, deprimierende Sonntagsveranstaltung bei RTL.
Hinzu kommen unangenehme Gesprächsführungen. RTLs Neumoderator zu Guttenberg spricht mit der Exil-Iranerin Sanaz Safaie über die Gewalt des Mullah-Regimes. Er erwähnt die vielen Menschen, die ihr Leben lassen mussten, kommt auf tote Kinder zu sprechen – und lacht plötzlich auf. Schon kurz zuvor war ihm bei dem Thema unpassenderweise ein Lacher herausgerutscht. Überspielte Nervosität oder ein missverständlich vorgetragener Ausdruck von Fassungslosigkeit? Wieder bleibt das Publikum ratlos zurück.
Neben dem Gottschalk-Guttenberg-Duo können die Gäste glänzen. Lottomillionär Chico zum Beispiel. Als er unbekümmert darüber spricht, sich schon immer einen Porsche gewünscht zu haben, schafft er es – auf seinem Ferrari sitzend – einen Gag zu zünden. "Und jetzt ist das nur mein Zweitwagen", lacht er.
Lottomillionär Chico wäre der richtige Moderator gewesen
Es ist einer der wenigen Momente, in denen Stimmung aufkommt. Was wäre das für eine Sendung geworden, wenn Chico sie moderiert hätte? Seine Lockerheit und Ausstrahlung entblößt den hölzernen Moderationsstil von Karl-Theodor zu Guttenberg noch deutlicher. Da kann auch die Erfahrung Gottschalks nichts mehr ausrichten. "Zum dritten Mal, so geht das", sagt Gottschalk am Ende und stößt seinem 21 Jahre jüngeren Kollegen in die Seite, weil dieser nicht nur die Anzahl an bisher gezeigten "Bilder des Jahres"-Einspielern vergessen hat, sondern diese mit so wenig Esprit ankündigt, dass das Publikum eher eine Abhandlung über das Korrespondenzbankwesen erwartet.
Er sei "signifikant gealtert", lässt zu Guttenberg nach quälend langen drei Sendestunden wissen und versucht dem 72-jährigen Gottschalk mit einem Witz über dessen angebliche Jugendlichkeit zu schmeicheln. Auch das Ende verkommt zum Rohrkrepierer.
Währenddessen steht Marius Müller-Westernhagen zwischen den beiden, blickt immer wieder ungläubig von einem zum anderen und wirkt, als suche er nach dem Unterhaltungswert. Oder hofft er etwa, dass Günther Jauch überraschend auf die Bühne tritt und dem Trauerspiel ein versöhnliches Ende bereitet?
Dieser Knaller wäre RTL zu wünschen gewesen, so kurz vor Silvester. Aber es bleibt eine Wunschvorstellung: für den Sender, Marius Müller-Westernhagen und das Publikum.
- RTL: "2022! Menschen, Bilder, Emotionen" vom 11. Dezember 2022