Deutschland lässt aufhorchen Die Oscars verpassen eine große Chance
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Sieg und Niederlage liegen an diesem Oscarabend aus deutscher Sicht nah beieinander. Am Ende bleibt die Erkenntnis einer vergebenen Chance.
Die Oscars sind vergeben, den wichtigsten Filmpreis der Welt erhielt der irre Science-Fiction-Trip "Everything Everywhere All at Once". Hier finden Sie einen Überblick zur Preisverleihung. "Im Westen nichts Neues" geht in der Königskategorie also leer aus, der große Triumph ist verpasst.
Die Niederlage ist zu verschmerzen, schließlich schaffte das Antikriegsdrama dennoch Historisches, holte gleich vier Goldjungen nach Deutschland. Von den insgesamt neun Nominierungen wurden es am Ende die Preise für "Bester internationaler Film", "Beste Kamera", "Bestes Szenenbild" und "Beste Filmmusik". Noch nie zuvor gelang das einem deutschen Beitrag. Nach "Das Leben der Anderen" 2007, "Nirgendwo in Afrika" 2003 und "Die Blechtrommel" 1980 jubelt Deutschland zum vierten Mal beim Auslandsoscar.
Dennoch bleibt ein Wermutstropfen. Die Academy hat sich bei der Wahl des besten Films für ein Werk entschieden, das alle Beobachter als Favoriten auf dem Zettel hatten. Die große Überraschung gab es bei der 95. Oscarverleihung nicht. Mehr noch: Statt für eine starke pazifistische Botschaft, für Relevanz und Aktualität hat sich die Oscarjury für Eskapismus entschieden.
"Im Westen nichts Neues" sendet klare Botschaft
Denn bis auf "Im Westen nichts Neues" konnte es kein anderer Konkurrent mit "Everything Everywhere All at Once" aufnehmen. Die beiden Filme lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Während der deutsche Streifen vier Oscars holte, waren es bei dem Fantasy-Abenteuer des US-Regieduos Dan Kwan und Daniel Scheinert sogar sieben Preise.
Die beiden Werke könnten dabei unterschiedlicher nicht sein. "Im Westen nichts Neues" beruht auf dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque, erzählt von den Grauen des Ersten Weltkriegs und leitet aus der bildgewaltigen Barbarei eine Antikriegsbotschaft ab. "Everything Everywhere All at Once" hingegen feiert den Film als Kunstform, ist ein experimenteller wie atemloser Trip in eine Fantasiewelt aus verschiedenen Genres, bricht mit allen Konventionen, die die Filmwelt zu bieten hat – und bedient dennoch ein uraltes cineastisches Prinzip.
- "Im Westen nichts Neues": Woher kommt der Hass auf diesen Film?
In 139 Minuten entführt "Everything Everywhere All at Once" seine Zuschauer in eine andere Welt. Eskapismus in Reinform. Dabei ist der Film nicht gänzlich unpolitisch, am Rande geht es um existenzielle Fragen, finanzielle Herausforderungen für das in China geborene Ehepaar Evelyn und Waymond Wang, das in den USA einen Waschsalon betreibt. Aber einer klaren Botschaft, einem gesellschaftspolitischen Signal, verweigert sich das Sci-Fi-Drama. Es will filmisch glänzen, auf unterhaltsame Weise eine Geschichte erzählen, mehr nicht.
Damit verpasst die Academy eine Chance. In Zeiten des Ukraine-Krieges hätten die Oscars mit dem Sieg eines starken Antikriegsdramas wie "Im Westen nichts Neues" für Furore sorgen, sich politisch positionieren können. Über dieses Statement wäre gesprochen worden, tagelang. Ein Film aus Deutschland, der in Hollywood für seinen Pazifismus geehrt wird: Das hätte international Diskussionen ausgelöst, zum Nachdenken angeregt – und die Schrecken des aktuellen Krieges aus einer neuen Perspektive in die Öffentlichkeit gerückt.
Die Kunst als Spiegel unserer Zeit, unserer Gesellschaft – die Academy Awards wären diesem Anspruch mit einer Prämierung von "Im Westen nichts Neues" gerecht geworden. Eine Auszeichnung im Bereich "Bester internationaler Film" hat nicht die gleiche Strahlkraft wie der Preis in der Königsdisziplin. 2020 hat die südkoreanische Satire "Parasite" beide Auszeichnungen abgeräumt – und die öffentlichen Diskussionen über die Oscars in den Folgetagen dominiert. Denn nie zuvor hatte ein ausländischer Film mit einem Doppelsieg in den Kategorien "Bester Film" und "Bester internationaler Film" geglänzt. Diese Chance blieb "Im Westen nichts Neues" nun verwehrt.
Seit "Platoon" hat kein Kriegsfilm mehr triumphiert
Es bleibt dabei: Seit 1987 und dem Sieg von "Platoon" über die Schrecken des Vietnamkrieges hat es kein Vertreter aus dem Genre des Antikriegsfilms mehr auf die höchste Stufe des Oscartreppchens geschafft. Die 95. Ausgabe des wichtigsten Filmpreises der Welt hat gerade in dieser Zeit, in der der Westen angesichts der Gräuel der russischen Invasion geeint wirken muss, eine gute Gelegenheit verstreichen lassen.
Ein erstaunlich unpolitischer Abend in Los Angeles geht schließlich mit der Erkenntnis zu Ende, dass sich der Film lieber selbst feiert, als eine historische Chance beim Schopfe zu packen. Für die Oscars selbst ist das ebenfalls kein gutes Zeichen. Denn die Academy hat seit Jahren nicht nur mit Skandalen, sondern auch mit einem schleichenden Bedeutungsverlust zu kämpfen. Um möglichst lange im Gespräch zu bleiben, wäre "Im Westen nichts Neues" wohl die bessere Wahl gewesen.
- Eigene Beobachtungen