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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Filmkritik Bester Filmstart: So gut ist "Avengers: Endgame" wirklich
Am Wochenende brach der neue Marvel-Streifen alle Rekorde und wurde zum Film mit dem besten Startwochenende. Weltweit spielte er bisher 1,2 Milliarden Dollar ein. Verdient?
Der mit Spannung erwartete Film ist krönender Abschluss der ersten zehn Jahre des "Marvel Cinematic Universe" – und ein Film, wie es ihn so noch nicht gegeben hat.
"Ich glaube, dass Trauer noch übertroffen wird von einem Gefühl der Zufriedenheit und der Möglichkeit, den Figuren ein Ende zu geben, das angemessen ist und überrascht und zum Weg passt, den sie zurückgelegt haben", sagte Regisseur Anthony Russo vor der Premiere in London im Interview mit t-online.de.
Der 49-Jährige und sein anderthalb Jahre jüngerer Bruder Joe haben am vergangenen Mittwoch mit "Avengers: Endgame" den größten Film des Jahres in die Kinos gebracht. "Endgame" soll das große Finale der ersten zehn Marvel-Kinojahre sein – und was für eins ist es geworden.
Es ist der 22. Film im 2008 gestarteten "Marvel Cinematic Universe" um die Comic-Superhelden "Iron Man/Tony Stark" (noch intensiver, noch zerrissener, noch genialischer gespielt vom großartigen Robert Downey Jr.), "Captain America" (Chris Evans) und Dutzende andere in einem unüberblickbaren Star-Ensemble, von Scarlett Johansson über Don Cheadle bis Mark Ruffalo.
Mit einem Budget zwischen 350 und 400 Millionen US-Dollar ist es einer der teuersten Filme der Geschichte – und soll und wird ein Vielfaches davon einspielen. An dieser Stelle übrigens vorneweg: Es ist den Filmschaffenden gelungen, vor Kinostart Stillschweigen über den genauen Inhalt des Films zu wahren (und von sonst allzu redseligen Darstellern wahren zu lassen), daher wird auch dieser Artikel spoilerfrei bleiben. Auszuzählen, wer noch alles dabei ist, würde den Rahmen sprengen und dazu auch noch spoilern.
Es ist ein Film geworden über Verlust und Trauer und Wut und Verzweiflung und über den Umgang mit ihnen. In "Avengers: Infinity War" aus dem vergangenen Jahr, an den "Endgame" direkt anknüpft, löschte Bösewicht Thanos (Josh Brolin als computergenerierter lilafarbener Riese) die Hälfte aller Lebewesen im Universum aus, auch ein Großteil der Superhelden zerfiel zu Staub. Der erste Teil des mit 181 Minuten Spielzeit üppig angesetzten "Endgame" beschäftigt sich nun mit den verbliebenen Heroen und ihren Gefühlswelten. Dafür lässt er sich beeindruckend viel Zeit. Dass den Russos das von oft allzu unruhigen Produzenten erlaubt wurde, ist das erste große Geschenk des Films.
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Denn startete "Infinity War" noch direkt mit Spektakel, läuft der Nachfolger nun langsam an, beleuchtet in behutsamer Weise die innere Zerrissenheit der Helden. Die Russos stellen die Frage, die sich jeder stellt, der einen schweren Schlag erleiden, eine ausweglose Situation meistern, einen schweren Fehler, ob selbst verschuldet oder unabsichtlich, verarbeiten musste: Wie damit umgehen? Kann man den Fehler ausbügeln, das eigene Versagen wiedergutmachen, die Katastrophe gar irgendwie ungeschehen machen? Sie geben selbst auch die Antwort: Das ist längst nicht so leicht wie gedacht, rohe Gewalt hilft dabei schon gar nicht.
Und zeigen dann, wie die Helden mit ihrer scheinbar endgültigen, unwiderruflichen Niederlage umzugehen versuchen. Das Regisseur-Bruderpaar lässt sie zu widerwilligen Leitern einer Selbsthilfegruppe für andere Betroffene der "Dezimierung" werden, andere gründen Familien, leben resigniert in den Tag, verfallen dem Alkohol oder flüchten sich in Gewaltexzesse. Bis durch eine schicksalhafte Fügung das bisschen verbliebene Hoffnung wieder aufflammt.
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An dieser Stelle wird der Film zum Stück über Optimismus, über Liebe und Vertrauen und Glück und ihre Bedeutung – und zum virtuosen, wilden Kunstwerk über (nun doch ein Mini-Mini-Spoiler!) Zeitreisen. Szenarien, Orte und Ereignisse aus den bisherigen Filmen werden neu entdeckt, neu interpretiert. Das führt zwangsläufig zu Momenten und Erinnerungen, die ergreifen, die bewegen, die überraschen und erbarmungslos die Tränen in die Augen treiben (was der Autor dieser Zeilen selbst bestätigen kann. Mehrfach).
Dass der Film hier nicht komplett zum emotionalen Rührstück verkommt, verhindern die Russos und die genialen Drehbuchautoren Christopher Markus und Stephen McFeely mit intelligenter Komik – und vor allem mit irrsinnigen Wendungen und Überraschungen, mit einem fast unheimlichen Gespür für exakt die Momente, in denen sie am allerwenigsten erwartet werden. Mal herzzerreißend tragisch, mal herrlich verrückt.
Und so steuert der bis hierhin schon furiose Film auf ein noch furioseres Finale zu, das es in seiner bombastischen Überdimensioniertheit nicht nur im Superheldenkino noch nicht gegeben hat. Ein Film, der sich aller Bedeutungsschwere zum Trotz nie zu ernst nimmt, sich seines eigenen Wahnsinns bewusst ist und diesen genüsslich zelebriert (und dabei "Zurück in die Zukunft" ordentlich einen mitgibt). Die Russos sind selbst seit ihrer Kindheit Marvel-Fans, und das zeigt sich auch in ihrem insgesamt vierten Film für das "Marvel Cinematic Universe". Denn jede Figur bekommt ihren Moment, ihren großen Auftritt, eine manchmal letzte Verbeugung vor den Fans.
Dass dabei vereinzelt die Logik im Skript auf der Strecke bleibt, dass an der einen oder anderen Stelle zu radikal überdreht wird? Geschenkt. "Avengers: Endgame" überwältigt mit der ganzen Bandbreite, die die Gefühlswelt hergibt. Ein opulentes, anspruchsvolles Spektakel, das seine Zuschauer fordert – aber auch viel Wissen über Ereignisse aus den bisherigen 21 Filmen voraussetzt. Die Russos behandeln das Publikum nicht wie kleine Kinder, denen alles noch mal erklärt werden muss, sondern sie gehen davon aus, dass der Zuschauer mit genau der gleichen Begeisterung und dem gleichen Wissensstand in den Film geht wie sie selbst. Ein Film von Fans für Fans.
"Das Ende ist ein Teil des Wegs", sagt Tony Stark an einer Stelle des Films. Es hätte furioser, bombastischer, aufwühlender, berührender nicht ausfallen können.