Theater Uraufführung von Jelinek-Stück: Tierisches Seuchen-Elend
Hamburg (dpa) - Die Welt befindet sich in einem Zustand des Dauergebrülls. Und so hören die Besucher der Uraufführung von Elfriede Jelineks "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg erst einmal fast 20 Minuten Stimmengewirr im Dunkeln.
Ein assoziativer Wortstrom ergießt sich von allen Seiten in den Saal. "Diese Krankheit ist eine Lüge. Wir wissen, wer sie verbreitet. Wir kennen diejenigen, die dahinterstecken. Das haben wir gelesen", nimmt der Text etwa den fragwürdigen Wahrheitsanspruch der Verschwörungstheoretiker aufs Korn. Hinzu kommen Zitate von Politikern und Virologen. Aufklärendes von Merkel und Spahn, Mäßigendes von Christian Drosten.
Nach siebenmonatiger Corona-Zwangspause hat Intendantin und Regisseurin Karin Beier die Saison mit einer Polit-Groteske der österreichischen Literatur-Nobelpreisträgerin wiedereröffnet. Die Bühne gleicht einer Tiroler Hütte, die sich im Laufe des Abends mehr und mehr in einen Schlachthof verwandelt (Bühne: Duri Bischoff). Eine Blaskapelle (Komposition: Jörg Gollasch, Musiker: Lukas Fröhlich, Sebastian John, Stefan Pahlke) spielt fröhlichen Alpen-Techno. Stolz führen die mit Kunstlippen und -wimpern toll aufgemachten Darstellerinnen Josefine Israel, Eva Mattes, Angelika Richter und Julia Wieninger immer neue schrille Kreationen aus glänzenden Daunenjacken und Kunstpelz (Kostüme: Wicke Naujoks) vor. In diese dekadente Welt aus Après-Ski-Ischgl-Hemmungslosigkeit bricht die Corona-Pandemie mit ihren Verboten ein.
Der Jelinek-Text verschränkt die alpinen Superspreader-Ereignisse mit der antiken Mythologie der Odyssee des Dichters Homer. Die Gefährten des Odysseus stranden auf der Insel der von Eva Mattes glamourös gebotenen Zauberin Kirke, erliegen ihrem Charme und werden von ihr in Schweine verwandelt. Je doller sich das Ischgl-Treiben mit aufblasbaren Sex-Puppen und Alkohol-Exzessen auf der Bühne gestaltet, desto schweinischer erscheint die Szenerie. Bis Bilder von Schlachthof-Elend über die Bildschirme flimmern und Eva Mattes in Innereien wühlt.
Die routinierte dreistündige Inszenierung ermöglicht dem Ensemble einige spielerische Glanzmomente. Da wird Josefine Israel zur Pflege-Heldin, Lars Rudolph gibt den Weißkittel und Jan-Peter Kampwirth steuert als Tresenkraft Alltagsweisheiten bei. Der großartige Ernst Stötzner begeistert als Odyssee-Erzähler.
Das Stück liefert in der Verschränkung von ausgebeuteter Natur und Seuchen-Ignoranz und in der Bloßstellung einer gestörten gesellschaftlichen Kommunikation einen klugen Kommentar zur Gegenwart. Dennoch ist der nach dem ersten Lockdown entstandene Text teilweise von der Pandemie-Realität überholt und dadurch etwas überraschungsarm. Auch ist er weniger raffiniert geschrieben als frühere Jelinek-Stücke wie etwa "Am Königsweg" (2017).
Die Idee, die Pandemie mit der antiken Odyssee und dem Gelage bei Kirke zu verschränken, trägt nicht den ganzen Abend. Und so reproduziert die Inszenierung nach der Pause weiter sattsam bekannte Bilder von entfesselten Ski-Urlaubern und malträtierten Nutztieren bis zum abschließenden Chor und einem von Heidegger getränkten, starken philosophischen Schluss-Monolog von Julia Wieninger.