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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Geigers Dämpfer von Oberstdorf Der Favoritenrucksack ist deutlich leichter geworden
Nach Platz fünf zum Auftakt der Vierschanzentournee war Karl Geiger enttäuscht und erschöpft. Einen Tag später ist er wie ausgewechselt – nicht nur, weil die Last der Favoritenrolle nun bei anderen liegt.
Als sich Stefan Horngacher und Karl Geiger in der Mixed Zone der Oberstdorfer Schattenbergschanze begegneten, vergaßen die beiden für wenige Sekunden die zahlreichen Kameras vor ihnen. Statt sich den Fragen der wartenden Journalisten zu stellen, entspann sich ein spontanes Fachgespräch, in dem der Skisprung-Bundestrainer und sein Vorzeigespringer Geigers vorherigen Sprung beim Auftaktspringen der Vierschanzentournee analysierten. Geiger verzog dabei mehrmals das Gesicht und zeichnete mit der Hand Absprung und Flug nach.
Letzterer hatte ihn auf 131 Meter getragen – eine überaus manierliche Weite. Zumal der Anlauf im Vergleich zum späteren Sieger Ryoyu Kobayashi zwei Luken verkürzt worden war. Eine Entscheidung, die Sven Hannawald durchaus kritisch sieht.
"Er hat eigentlich mehr Rückenwind gehabt", sagte der letzte deutsche Tourneesieger in der "Sportschau" und fügte hinzu: "Karl bekommt da ein paar Punkte mehr in den Rucksack gelegt, weil er eben etwas weiter unten gesprungen ist. Er hatte aber nicht die Bedingungen für das Gate. Und dementsprechend hat er das Beste draus gemacht. Jeder andere Springer springt da 110 Meter und das war's."
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Geiger selbst zeigte sich nach dem Springen dennoch nachdenklich. "Im ersten Moment war ich schon ein bisschen enttäuscht, weil ich oben mitbekommen habe, dass die anderen ganz schön weit waren. Da habe ich nicht ganz die feine Klinge im zweiten Durchgang gehabt", sagte der Oberstdorfer. Damit spielt er unter anderem auf Sieger Kobayashi an, der sich mit einem Traumflug auf 141 Meter im zweiten Durchgang noch von Rang fünf auf eins vorschob.
Kobayashis Traumflug
Da der Japaner im ersten Durchgang allerdings nur 128,5 Meter gesprungen war, liegt er mit insgesamt 302 Punkten nur gut sechs Zähler vor Geiger (295,9). Der Deutsche war in seinem ersten Versuch auf 131,5 Meter gesprungen. Umgerechnet beträgt Kobayashis Vorsprung etwa drei Meter, sodass für Geiger vor dem zweiten Springen in Garmisch-Partenkirchen am Neujahrstag (ab 14 Uhr im Liveticker von t-online) noch alles drin ist.
Dennoch machte er nach dem Springen einen etwas niedergeschlagenen Eindruck. Während sein Kumpel Markus Eisenbichler als Siebter bestens aufgelegt keinem Mikrofon aus dem Weg ging und ausführlich Rede und Antwort stand, wirkte Geiger müde – als ob er dem Rummel am liebsten ganz schnell entflohen und heim zu seiner Frau und seiner Tochter gefahren wäre.
Die Sache mit dem Druck
Der Druck, der vor dem Tourneestart auf dem sonst so coolen Weltcup-Gesamtführenden lastete, war ihm bei seinem Heimspiel in Oberstdorf sichtlich anzumerken. Dies gab Geiger auch freimütig zu: "Es war reichlich Druck auf dem Laden, das Spannungslevel sehr hoch – dann gehen eben irgendwann die Beine zu." Auch Bundestrainer Horngacher machte die Beobachtung, dass sein Vorzeigespringer "sehr unter Strom stand".
Am Morgen nach dem Auftaktspringen wirkte Geiger dann schon wieder deutlich entspannter. Am ersten Ruhetag der Tournee genoss er den freien Vormittag im deutschen Teamquartier hoch über Oberstdorf.
Drei Norweger mischen im Kampf um den Gesamtsieg mit
Der erste deutsche Gesamtsieger seit Hannawald vor 20 Jahren zu werden, dieses Ziel hat der 28-Jährige immer noch fest im Blick: "Die Ausgangsposition ist weiterhin gut, das waren erst zwei von acht Sprüngen", so der Olympia-Silbermedaillengewinner von Pyeongchang. Nun gehe es darum, runter- und dann im richtigen Moment wieder hochzufahren.
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Die Rolle als der große Topfavorit neben Kobayashi ist Geiger zumindest erst mal los. Denn wie von ihm prognostiziert, haben auch andere Springer im Kampf um den Tourneesieg Ansprüche angemeldet. Allen voran die Norweger Halvor Egner Granerud, Robert Johansson und Marius Lindvik, die in der Gesamtwertung nun allesamt vor Geiger liegen. Ein bisschen wirkt es so, als komme das dem Deutschen gar nicht so ungelegen – denn jetzt steht er nicht mehr so stark im Fokus und die immense Erwartungshaltung der deutschen Öffentlichkeit relativiert sich etwas.
Am Freitag wartet in Garmisch-Partenkirchen auf der Olympiaschanze die nächste Herausforderung. Ab 14 Uhr steht dort die Qualifikation (im Liveticker von t-online) für das traditionelle Neujahresspringen an. Bis dahin werden Geiger und Horngacher Zeit finden, ihr Fachgespräch aus der Mixed Zone in Oberstdorf noch ein bisschen fortzusetzen – diesmal ohne Kameras.
- Eigene Beobachtung vor Ort