"Es war Anarchie da draußen" Radprofis nach Horrorstürzen stinksauer
Aus Rio de Janeiro berichtet Johann Schicklinski
Die wichtigste Nachricht vom zweiten Wettkampftag bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro betraf weder Entscheidungen, Medaillen noch Rekorde: Es war die Botschaft vom Königlich-Niederländischen Radsportverband, dass es Annemiek van Vleuten den Umständen entsprechend gut geht.
Zuvor hatten Millionen vor dem Bildschirm und die Zuschauer vor Ort um das Leben der 33-Jährigen gebangt. Die Niederländerin legte als Führende im olympischen Straßenradrennen der Frauen auf der Abfahrt von der berüchtigten Vista Chinesa einen Horrorsturz hin, bei denen allen Beobachtern der Atem stockte. "Ich dachte, sie ist tot", sagte die spätere Olympiasiegerin Anna van der Breggen (Niederlande).
Van Vleuten, die einen komfortablen Vorsprung hatte, verbremste sich, stürzte in einer Kurve über ihren Lenker, krachte mit dem Rücken auf die Bordsteinkante und blieb bewusstlos liegen. Gehirnerschütterung und drei kleinere Brüche im Lendenwirbelbereich so die Diagnose im Krankenhaus. Sie kam noch glimpflich davon.
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Trauriges Déjà-vu
Wer schon das Rennen der Männer am einen Tag zuvor verfolgt hatte, erlebte ein Déjà-vu. In Führung liegend stürzten dort Vincenzo Nibali und Sergio Henao. Ebenfalls auf der Abfahrt von der Vista Chinesa. Der Italiener Nibali, der als einer der Weltbesten Abfahrer gilt, brach sich das Schlüsselbein. Der Kolumbianer Henao erlitt eine Beckenfraktur.
Dass das Herren-Rennen darüber hinaus zu einem echten Sturz-Festival verkam, belegen die Ausrutscher von Größen wie dem Briten Geraint Thomas oder Richie Porte aus Australien. Auf der Abfahrt vom "Chinesen-Pass" erwischte es aber noch weit mehr Fahrer. Insgesamt beendeten nur 65 von 144 Startern das Rennen.
Fahrer sind stinksauer
Bereits vorab war von dem härtesten Straßenradrennen der olympischen Geschichte die Rede gewesen. Eine Prophezeiung, die eintraf. Erfahrene Profis wie der Tour-de-France-Sieger Christopher Froome ("brutales Rennen") oder Simon Geschke ("extremer Kurs, schwerer geht nicht") übten nach dem Rennen bereits lautstark Kritik.
Es gab im Zielbereich an der Copacabana eigentlich keinen Fahrer, der seinen Ärger zurückhielt. Sie alle waren ebenso stinksauer wie erschöpft und fertig. "Es war Anarchie da draußen", sagte der US-Radprofi Brent Bookwalter, während der Ire Daniel Martin stöhnte: "Das war der härteste Tag meiner Karriere. Es war einfach brutal, brutal!"
Die Organisatoren sind bei der Streckenführung offensichtlich übers Ziel hinausgeschossen. Schließlich wurden in beiden Rennen die Medaillenvergabe durch die Stürze beeinflusst.
Unverantwortliches Handeln
Tolle TV-Bilder, wie es sie an der Vista Chinese, einem Pass in 502 Meter Höhe mit einer chinesische Pagode aus dem Jahr 1903 und einem fantastischen Blick auf Copacabana, Cristo Redentor und den Zuckerhut gibt, sind das eine.
Mit dem Leben der Fahrer zu spielen, die auf engsten Kurven der steilen Abfahrt beim Kampf um Medaillen nach einem absolut zermürbenden und kräftezehrenden Rennen vielleicht nicht mehr die absolute Konzentration haben, ist indes unverantwortlich. Die Verantwortlichen beschwörten ein absolut chaotisches Rennen herauf. Dabei hätten sie auf all die Kritik, die bereits vorab an der Streckenführung laut geworden war, reagieren müssen.
Viele Asse erst gar nicht am Start
Neben der Härte des Rennens, das alleine bei den Männern knapp 4600 Höhenmeter beinhaltete, war vielen Radsportverbänden übel aufgestoßen, dass ein Großteil der Fahrer unter diesen Umständen keinerlei Siegchance hat. Asse wie die deutschen Sprinter Marcel Kittel, André Greipel oder John Degenkolb nahmen deshalb gar nicht erst am Rennen teil.
In einer Stadt wie Rio, die malerische Bilder im Überfluss bietet, wäre es deshalb besser gewesen, die Entscheidungen auf einer entschärften Strecke stattfinden zu lassen. So verkam das Männerrennen am Ende zur Farce. Bei den Frauen indes wird sich Annemiek van Vleuten statt über eine Medaille nach der ersten Enttäuschung wohl "nur" darüber freuen, überhaupt mit dem Leben und ohne schwerwiegende Schäden davongekommen zu sein.