Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tokio 2020 Warum Russlands "verfluchte" Olympische Spiele besser waren
Die Corona-Pandemie wütet, aber die Olympischen Spiele in Tokio finden statt. Dabei hätte man es besser wissen können, denn der Fluch Olympias schlägt wieder zu. Wie 1980 in Moskau, meint Wladimir Kaminer.
Als hätte man die Pandemie vorausgesehen, wurden die Olympischen Spiele 2020 bereits vor sieben Jahren an Japan vergeben, jenseits der großen Festlandmassen, ins Land der aufgehenden Sonne.
Es gab damals bei der Vergabe in Buenos Aires weniger Bewerber als in den Jahren davor, wahrscheinlich wussten viele von dem 40-Jahre-Fluch, nur die Japaner hatten es vergessen und sind zum zweiten Mal auf die gleiche Harke getreten. Es ist nämlich bekannt, dass die Olympischen Spiele alle 40 Jahre scheitern – und kein Glück und kein Geld ins Land bringen. Schon 1940 wurden sie in Japan wegen des Weltkriegs abgesagt. 40 Jahre später, 1980, sollten sie in meiner Heimat, der damaligen Sowjetunion, stattfinden.
Immer wieder Afghanistan
Wir hatten uns gut vorbereitet, neue Hotels gebaut und alte Stadien renoviert. Wir haben einen riesigen Gummibären aufgeblasen, er sollte als olympisches Maskottchen über dem Stadion fliegen und die Gäste aus aller Welt aus der Luft grüßen. Wir haben Kuchen gebacken und den Wodka kaltgestellt. Doch die Gäste ließen auf sich warten. Kurz vor Beginn der Spiele war die sowjetische Armee nämlich in Afghanistan einmarschiert, um dem afghanischen Volk beim Aufbau einer besseren Gesellschaft zu helfen. Heute hätte der Einmarsch kaum zu einem Skandal geführt.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon".
Es ist inzwischen zu einer Tradition geworden: Alle Länder, die unter Realitätsverlust und Missionierungsdrang leiden, marschieren irgendwann nach Afghanistan ein und später rückwärts dann wieder raus.
Aber damals wurde der Einmarsch der Russen von der kapitalistischen Welt als große Unverschämtheit empfunden. Um sich an den Sowjets zu rächen, boykottierte der Westen anschließend unsere Olympischen Spiele.
Die sowjetische Führung, die Bürgerinnen und Bürger, waren etwas enttäuscht, dass die westliche Welt uns nicht besuchen kam, aber geweint hat deswegen keiner. Wir haben gelernt, auch das Scheitern kann man genießen. Es kamen unsere Freunde vorbei, die Sportler aus Afrika, aus Jugoslawien, Bulgarien und der DDR. Menschen, die neben den olympischen Objekten lebten, wussten die Spiele ebenfalls zu schätzen.
Sauna anstelle des Stadions
Meine Eltern und ich, wir wohnten in Moskau nicht weit vom Ruderkanal, viele unserer Nachbarn haben an diesen olympischen Objekten gearbeitet, als Wachmänner, Einlasser oder Techniker. Sie waren von ihren olympischen Jobs begeistert. Es gab dort Kantinen, Saunas, Eisdielen und sogar ausländische Automaten, die Fanta und Cola per Knopfdruck ausspuckten. Die Erholungsräume für Sportjournalisten und Athleten waren mit japanischen Fernsehern von Sony und mit finnischen Kühlschränken der Marke "Porkka Jääkaappi" ausgestattet, die immer voll mit Getränken waren. Es war vieles getan worden, um die Gäste aus dem Westen zu beeindrucken.
Es war eben nicht unsere Schuld, dass sie nicht gekommen waren.
Wir sind unter uns geblieben, sind in die Sauna gegangen, haben Fanta- Automaten leer getrunken, Kühlschränke geplündert, Eis gegessen und alle Goldmedaillen selbst gewonnen. Den riesigen aufgeblasenen Gummibären haben wir losgebunden, er ist sehr schnell sehr hoch geflogen. Wahrscheinlich dreht er noch immer im Weltall seine Runden. Ich würde gern die amerikanischen Milliardäre fragen, die nun andauernd mit ihren Privatkapseln für Staus im Weltall sorgen, ob sie schon mal unser Bärchen getroffen haben. Es kann da oben eigentlich nicht zu übersehen sein.
Nachdem die Spiele zu Ende waren, haben meine Nachbarn feine Souvenirs mit nach Hause genommen, die kleinen japanischen Fernseher von Sony und die finnischen Kühlschränke der Marke "Porkka Jääkaappi" als Andenken an Olympia 1980. Es war in der Sowjetunion eine gute Sitte, von überall Souvenirs nach Hause zu bringen, von der Arbeit, aus einem Museum oder aus einem Restaurant.
Keine Fanta ohne Pulver
Man gönnte sich ja sonst nichts. Jahre später habe ich diese olympischen Fernseher und Kühlschränke in den Wohnungen gesehen. Bei meinem Nachbarn aus dem ersten Stock stand im Wohnzimmer sogar der Fanta- Automat, der aber keine Getränke mehr ausspuckte. Es stellte sich heraus, dass man ihn mit einem speziellen Pulver füttern musste, damit Limonade rauskommt. Wir hatten dieses Pulver nicht.
Die Japaner können ihre versauten Spiele nicht wirklich genießen, es vergeht kein Tag, dass nicht eine Protestdemonstration gegen die Spiele durch die Stadt zieht. In ihrer Mehrheit haben sich die Insulaner gegen Pandemie-Olympia ausgesprochen, doch die Regierung hörte ihnen nicht zu – jetzt haben sie den Salat.
Der japanische Finanzminister beschwerte sich, die Spiele hätten drei Mal so viel gekostet, wie geplant war: 20 Milliarden wurden für nichts ausgegeben, die Spiele finden ohne Zuschauer statt, Toyota ist als Sponsor abgesprungen und wollte die Ausstrahlungsrechte nicht kaufen. Als wäre das alles nicht schlimm genug, rollte ein tropischer Sturm, ein Taifun auf Tokio zu, mitten in der Olympiawoche waren Wellen bis zu acht Metern Höhe zu erwarten. Die Einwohner verließen in aller Eile die Stadt. In Japan wütet gerade die vierte Corona-Welle, die Fallzahlen steigen, im Land wurde der Ausnahmezustand verkündet. Die Restaurants und Geschäfte mussten um 20 Uhr schließen. Nur die Sportler und Journalisten fuhren hin.
Während die deutschen Journalisten stur immer weiter über ihre Medaillen berichten, als ginge es in der heutigen Situation wirklich darum, wer schneller laufen kann, wundern sich die Russen über die Sparsamkeit der Gastgeber. Es gibt nämlich keine Souvenirs, die Zimmer der Sportler sind sehr spartanisch ausgestattet, sie müssen auf Betten aus Pappe schlafen, es gibt keinen Fernseher, angeblich sollen sich die Athleten nicht ablenken.
Und es gibt keine Kühlschränke, damit die Gäste sich nur mit desinfizierten Lebensmitteln aus der Kantine ernähren und keine verseuchten Produkte von außerhalb ins Olympische Dorf schleppen. Auf Vakuumverpackungen können die Viren angeblich bis zur drei Tagen überleben. Nee, sagen die Russen, unsere verfluchte Olympiade war besser als eure. Ihr musst noch lernen, wie man das Scheitern genießt.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.