Deutschlands Olympia-Ergebnis Viele deutsche Trainer verlassen ihre Heimat
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die deutsche Medaillen-Ausbeute bei Olympia ist an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Um das künftig zu ändern, müssen mehrere Baustellen angegangen werden.
Das deutsche Team beendete die Olympischen Spiele in Paris im Medaillenspiegel als zehntbeste Nation. Im Vergleich zu Tokio bedeutet das aber eine Verschlechterung um einen Rang – und das schlechteste Abschneiden seit 1952.
Die insgesamt 33 Medaillen konnten den Abwärtstrend nicht aufhalten. Zum Vergleich: Bei den vorherigen Spielen waren es insgesamt 37 Edelmetalle, 1996 in Atlanta noch 65. Immerhin gab es in den vergangenen zwei Wochen zwölf Goldmedaillen und damit zwei mehr als noch vor drei Jahren. Dazu kommen 13 Silbermedaillen und achtmal Bronze.
- 329 Entscheidungen in Paris: Der Medaillenspiegel der Olympischen Sommerspiele 2024
Das vorher anvisierte Minimalziel Top Ten im Nationenspiegel erreichte Deutschland gerade so. Olaf Tabor, Leistungsvorstand beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), sagte noch vor dem Ende der Wettkämpfe, dass man "mit einem anderen Ziel in diese Spiele gestartet" sei. Perspektivisch muss sich daher etwas ändern, um dem anhaltenden Negativtrend entgegenzuwirken und wieder oben angreifen zu können.
Mehr Investitionen
"Platz fünf" peilt Tabor für die künftigen Sommerspiele an. Um das neu auserkorene Ziel zu erreichen, bedarf es seiner Meinung nach deutlicher Fortschritte bei der Schaffung einer unabhängigen Sportagentur. Dies sei "ein notwendiger Schritt" für die effizientere Förderung des Spitzensports, betonte er: "Für eine wieder erfolgreiche Entwicklung brauchen wir Entbürokratisierung und Flexibilisierung sowie mehr Investitionen in den Leistungssport."
Das Innenministerium und der Olympische Sportbund bestätigten das Vorhaben: "Die Spitzenförderung soll moderner, unbürokratischer und effizienter gestaltet werden. Wenn möglich, soll die Sportagentur im Jahr 2025 ihre Arbeit aufnehmen."
Eine goldene Zukunft ist dadurch aber noch lange nicht garantiert. t-online nennt fünf Gründe, weshalb Deutschland den Abwärtstrend bisher nicht stoppen konnte:
1. Fehlende Attraktivität
Sportprofessor Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln vermutete bereits im Deutschlandfunk: "Die Wertigkeit des Sportes für die Gesellschaft wird in Deutschland überhaupt nicht gesehen und erkannt." Verglichen mit der in den USA stellte er fest, dass Sport dabei helfe, den Status einer Person in der Gesellschaft zu verbessern "und sich Anerkennung und Wertschätzung zu erwerben." Deutschland, so Froböse weiter, fehle das Verständnis für die Persönlichkeitsentwicklung, die im Sport steckt.
Auch Deutschlands Zehnkämpfer Niklas Kaul beklagte bereits vor den Spielen von Paris im Interview mit t-online die geringe Wertschätzung für Sportler: "Ich fände es schön, wenn Leistungssport wieder einen anderen Stellenwert bekäme. Es geht nicht darum, dass wir einen roten Teppich ausgerollt bekommen, sondern um das Verständnis, dass ein Leistungssportler mit einer dualen Karriere zu gewissen Zeitpunkten bestimmte Dinge (…) nicht leisten kann", sagte Kaul weiter. Das ganze Interview lesen Sie hier.
2. Die Talentsuche
Das von Froböse angesprochene fehlende Verständnis für Persönlichkeitsentwicklung führe auch dazu, dass keine neuen Talente gefunden werden. "Wir haben kaum Talentsichtung, früher wurde das sehr systematisch gemacht an den Schulen" – etwa bei den Bundesjugendspielen. Das System habe sich aber komplett verschoben, weg vom Wettkampfdenken. Laut Froböse verlangen Kinder aber auch Wettkämpfe.
Wenn Kindern früh der Wille und auch das Interesse am Wettkampf weggenommen werde, ende das in fehlendem Nachwuchs. So ist das Fach Sport in der Schule auch nur ein Nebenfach und für Froböse ist klar, "dass in einem Nebenfach keine großen Talente entdeckt werden können."
3. Der Ruf des Auslands
Viele deutsche Trainer verlassen ihre Heimat und bilden Sportler in anderen Ländern aus. Der Grund: In den USA etwa können sie ihren Trainerjob hauptberuflich ausüben und brauchen keinen Nebenberuf. Das Vereinswesen in Deutschland ist hingegen auf einem Ehrenamt aufgebaut, so können keine professionellen Strukturen etabliert werden.
Auch Sportler wie Sprinterin Gina Lückenkemper, Zehnkämpfer Leo Neugebauer und Wasserspringerin Lena Hentschel haben Deutschland dahingehend den Rücken zugedreht, dass sie in den USA trainieren. Letztere erklärte jüngst, dass gewisse Sportler in den Vereinigten Staaten als Stars angesehen werden – anders als in Deutschland, wo viele Athleten weitestgehend unbekannt sind oder waren.
Auch Neugebauer, der in Texas ein gutes Gleichgewicht zwischen Studium und Sport gefunden hat, steht hinter seiner Entscheidung pro USA: "In jedem einzelnen Jahr, in dem ich hier bin, bin ich glücklicher, dass ich diese Entscheidung getroffen habe", sagte er in einem Interview mit "deutschland.de".
Bei Olympia in Paris feierte Neugebauer die Silbermedaille, galt als Favorit auf Gold. Der Erfolg kommt nicht aus dem Nichts: "Die haben mich so sehr geformt. Meine Coaches, meine Familie, die Trainingsbedingungen dort", sagte er t-online nach seinem Erfolg über den Anteil, den seine Jahre am College hatten. Das ganze Interview lesen Sie hier.
Anders als Deutschland sahnten die USA bei den Sommerspielen in Paris ab: Mit insgesamt 126 Medaillen (40-mal Gold, 44-mal Silber und 42-mal Bronze) setzte sich die Nation im Medaillenspiegel am Ende vor China (91) und Japan (45) souverän durch. Auch Neugebauer profitiert von den starken Athleten des Landes: "Ohne das hohe Niveau in den USA wäre ich nicht da, wo ich gerade bin", sagte er im vergangenen September bei der Leichtathletik-WM in Budapest (mehr dazu lesen Sie hier).
4. Das System
Das Training und die Ausbildung wie in den USA und anderen Ländern sollten auch in Deutschland im Mittelpunkt stehen können. Dafür braucht es aber bestimmte Rahmenbedingungen: Leistung sollte sich lohnen, Leistung sollte honoriert werden.
Doch wie soll das möglich sein, wenn die Prämie für den deutschen Olympiagewinn im Vergleich zu anderen Ländern lächerlich erscheint? 20.000 Euro erhalten Goldmedaillengewinner aus Deutschland. Andere Länder gehen sogar in den sechsstelligen Bereich.
- Geld für Gold: So viel zahlen die Länder für Medaillen
Malaysia, Marokko und Serbien zahlen ihren Sportlern bei einem Medaillengewinn jeweils mehr als 184.000 Euro. Italien, Ungarn und Litauen beispielsweise entlohnen ihre Goldgewinner mit mehr als 100.000 Euro.
5. Eine gewisse Mentalität
Bei den Olympischen in Paris stachen besonders die verlorenen Endspiele der deutschen Mannschaften hervor. Die Handballer verloren deutlich gegen Dänemark, im Beachvolleyball unterlag das deutsche Duo Schweden, auch die Hockey-Männer verloren dramatisch gegen die Niederlande. Zuvor scheiterten bereits die DFB-Frauen an den USA und die Basketballer an Gastgeber Frankreich im Halbfinale.
Medaillen gab es für die Teams reichlich, doch für Gold reichte es nur bei den 3x3-Basketballerinnen. Daher musste sich der Deutsche Olympische Sportbund auch die Frage stellen: Hat Deutschland ein Mentalitätsproblem?
Bis zu den nächsten Olympischen Spielen in Los Angeles bleiben Deutschland noch vier Jahre, um einen ersten Schritt in Richtung erfolgreichere Zukunft zu machen. Helfen soll dabei auch das sogenannte Potenzialanalysesystem.
Dieses soll seit 2016 die Sportarten identifizieren, die die beste Chance auf Medaillen bei großen Wettbewerben wie Europa- und Weltmeisterschaften sowie bei den Olympischen Spielen haben – zumindest theoretisch. Das "PotAS" bewertet dabei auf Grundlage zweier Säulen: Potenzial der Sportart und Erfolge vor und bei Olympia.
Das Abschneiden im "PotAS" hat dabei immensen Einfluss auf die Höhe der Fördergelder, die die jeweiligen Sportarten vom Bund erhalten. Zuletzt überraschten die Ergebnisse aber negativ: Der Bericht zwischen 2019 und 2021 prognostizierte Basketball auf dem letzten Platz, Leichtathletik landete an der Spitze. Die Realität aber zeigte das Gegenteil. So erkämpfte sich das deutsche Basketballteam um Dennis Schröder im September 2023 sensationell den WM-Titel, die deutsche Leichtathletik blieb bei der WM in Budapest kurz zuvor ohne Medaille.
Doch unabhängig von den enttäuschenden Ergebnissen werde am "PotAS" festgehalten. Innenministerin Nancy Faeser kündigte an, das System nicht abzuschaffen und stattdessen weiterzuentwickeln sowie in die neu geplante Sportagentur integrieren zu wollen.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und SID
- deutschland.de: "Die Medaille im Gepäck"