Ex-Leichtathletin Harrer: "Grenze zum Krankhaften ist da sehr schmal"
Berlin (dpa) - Die frühere Mittelstreckenläuferin Corinna Harrer weist auf besorgniserregende Entwicklungen in der Leichtathletik hin.
"Ich habe schon das Gefühl, dass es ein vorherrschendes Ideal gibt: Wenn du erfolgreich sein willst, musst du dünn sein. Beziehungsweise: Wenn du drei Kilo zu viel auf den Rippen hast, bist du schlecht", sagte die 28-Jährige im Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Samstag). Sie habe sich "erst neulich mit einer ehemaligen Profiläuferin unterhalten, die hat gesagt: 'Ich bin froh, dass ich da raus bin - jede hungert sich nur noch runter.'"
Harrer, die bei den Olympischen Spielen 2012 in London über 1500 Meter das Halbfinale erreicht hatte, hatte ihre Profilaufbahn 2018 beendet. In der Zeit ihrer aktiven Karriere war es in den USA beim Nike Oregon Project zu den Doping-Verstößen unter Cheftrainer Alberto Salazar gekommen, dem zuletzt auch der mentale und körperliche Missbrauch von Athletinnen vorgeworfen worden war. Salazar weist das zurück.
"Dass es bei Salazar krass abging, war ja nie ein Geheimnis", sagte Harrer. "Dass Salazar so extrem am Gewicht und an der weiblichen Entwicklung herumgepfuscht haben soll, hat mich aber schon überrascht. Auch wenn das Gewichtsthema in Läuferkreisen schon seit einer Weile ein großes ist."
Die "Grenze zum Krankhaften" bei der Kontrolle von Gewicht und Nahrungszufuhr sei "sehr schmal". Die Praxis, "genau so viel zu essen, dass du das Training gerade durchstehen kannst, ist letztlich ja auch eine Essstörung", sagte Harrer. "Für die Organe und auch für deine Psyche ist das jedenfalls nicht gesund."
Grundsätzlich wünscht sich die frühere Kader-Athletin besseren Schutz für die Aktiven. "Man bräuchte zunächst einmal mehr Frauen in verantwortlichen Positionen, als Trainerinnen und im betreuenden Umfeld, und auch wieder mehr Athleten, die zeigen, dass man nicht nur mit dieser extremen Dünnheit zum Erfolg kommen kann", sagte sie. "Was ich bedenklich finde, ist, dass viele jüngere Athleten heutzutage viel erdulden und mitmachen - und dass der Erfolg dabei über allem steht. Viele hinterfragen das gar nicht mehr und haben oft auch nicht das Umfeld, das sie dazu drängt. Das ist zumindest mein Eindruck."