Hitzlsperger über Katar-WM "Der Schaden ist nicht mehr zu reparieren"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.In gut zwei Wochen startet die Winter-WM in Katar. Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger war vor Ort – und hält einen Boykott nicht mehr für zielführend.
Thomas Hitzlsperger wollte sich selbst ein Bild machen. Also reiste der frühere Fußballprofi im Auftrag der ARD, für die er bei der WM als TV-Experte arbeiten wird, nach Katar – und traf dort die Menschen vor Ort.
Privat wäre eine solche Reise für Hitzlsperger, der für den DFB auch als Botschafter für Vielfalt agiert, aber nicht denkbar gewesen. "Das verträgt sich nicht", erzählt der 40-Jährige im Interview mit t-online – und spricht auch über die Rolle Katars nach der umstrittenen Winter-Weltmeisterschaft.
t-online: Herr Hitzlsperger, erzählen Sie von Ihrer Reise nach Katar. Warum waren Sie dort?
Thomas Hitzlsperger: Die ARD war an mich herangetreten und hatte mich gefragt, ob ich an einem Dokumentarfilm rund um die WM mitwirken möchte. Ich habe mich schon öfter zu Katar geäußert und werde das auch in Zukunft tun – daher erschien es mir ratsam, mindestens einmal im Land gewesen zu sein. Ich war insgesamt fünf Tage in Doha und habe mit Menschen geredet, die dort leben. Es war ein kurzer Besuch, der mir einen guten Überblick darüber gegeben hat, wie das Alltagsleben aussieht.
Und wie tickt das Land?
Ich will nicht alles verraten, bevor die Doku rauskommt (lacht). Aber ich kann nun definitiv besser über Land und Leute urteilen. Ich habe mich mit einer Frau getroffen, die dort lebt, und mit ihr über all das gesprochen, was zuletzt Thema war: Wie steht es um die Rechte der Frauen? Wie um die Rechte der Homosexuellen? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Da habe ich sehr viel erfahren.
Zum Beispiel?
Nehmen wir das Thema Arbeitsbedingungen. Ich war jetzt Anfang Oktober zu Besuch, da ist es noch sehr, sehr schwül und heiß in Doha. Wenn man mittags aus dem klimatisierten Zimmer hinausgeht und bei diesen extremen Temperaturen arbeiten muss, dann ist das alles andere als erträglich. Und man sieht diese Menschen, die bei dieser unfassbaren Hitze arbeiten müssen. Das war schon heftig. Ich wollte mehrere Perspektiven hineinbringen in der Doku – und ich hoffe, dass mir das gelungen ist.
Wäre es für Sie auch eine Option gewesen, privat zur WM nach Katar zu reisen?
Nein, das spielte in meinen Überlegungen keine Rolle. Ich habe keine Angst und war eben auch beruflich da, aber es verträgt sich für mich nicht, auf der einen Seite Kritik zu äußern, andererseits dann aber zu sagen: "Angenehmes Klima, schicke Hotels, da mache ich im Winter Urlaub und blende alles andere aus." Das geht für mich nicht.
Wie ist eigentlich der internationale Blick auf diese Winter-WM?
Ich tue mich schwer damit, das zu bewerten. Aus europäischer Sicht heißt es immer, in Südamerika oder Asien wird das Turnier nicht so kritisch gesehen. Aber lesen wir täglich die dortige Presse? Nein. Wir wissen es nicht im Detail. In Europa sind wir Deutschen sicher nicht die einzigen, die das Turnier kritisieren und die Menschenrechtslage anprangern. Wir legen bei der Kritik unsere Maßstäbe an – und Katar muss sich der Kritik stellen. Und ich halte unsere Maßstäbe in diesem Fall für völlig legitim, weil es um Menschenrechte geht. Dagegen kann man nicht mit Kultur oder Religion argumentieren.
Stellt sich Katar der Kritik?
Katar richtet eine WM aus. Und Fans, die seit vielen Jahrzehnten Fußball konsumieren, können diesen dort nicht auf die bisherige Art und Weise erleben. Menschen, die nach Deutschland, Brasilien oder Südkorea gereist sind, müssen sich jetzt ganz andere Gedanken machen. Wie muss ich mich verhalten? Darf ich eine kurze Hose tragen? Kann ich mit meinem Partner oder meiner Partnerin zum Turnier fahren? Darf ich in der Öffentlichkeit Alkohol trinken? Es herrscht eine große Unsicherheit. Und all das wirft eben eine Menge Fragen und Kritik auf.
Finden Sie, dass das Thema Boykott zu kurz gekommen ist?
Ich gehöre zumindest zu den Leuten, die nicht wissen, was ein Boykott jetzt noch bringen sollte. Die Stadien stehen, es ist alles hergerichtet und der Schaden, wie etwa die Todesopfer im Zusammenhang mit dem Bau der Stadien, nicht mehr zu reparieren. Wir sind an einem Punkt, an dem wir weiter Missstände ansprechen und daran appellieren müssen, dass es so, wie die WM zustande gekommen ist, nicht geht. Der Boykott ist keine konstruktive Lösung mehr. Wenn sich alle daran beteiligen würden: ok. Aber wenn sich Einzelne herausziehen würden, wäre das nicht zielführend. Damit wäre den Menschen, die massiven Schaden genommen haben, auch nicht mehr geholfen.
Die Kataris sagen, dass man als Gast ihre Kultur respektieren soll. Das geht allerdings nicht unbedingt einher mit der Auslebung der Grundrechte, wie wir sie kennen.
Es ist zu hören: "Jeder ist willkommen." Daran müssen sie sich messen lassen. Erst nach dem Turnier können wir Bilanz ziehen und sagen, ob das Versprechen eingelöst wurde.
Können Fans denn ohne Sorge nach Katar reisen?
Ich habe Leute getroffen, die ganz klar gesagt haben: "Wenn nicht klar ist, dass ich sicher nach Katar reisen kann und den Fußball so zelebrieren kann, wie ich es immer getan habe, dann fahre ich dort nicht hin." Ich hatte wie gesagt keine Angst, dass mir in Katar etwas passieren würde. Aber ich kann verstehen, dass Menschen äußerst vorsichtig sind und auf die Reise verzichten.
Als Homosexueller nach Katar zu reisen, ist das eine. Seine Homosexualität in der Öffentlichkeit auch auszuleben, das andere.
Wenn wir bei den Rechten von Homosexuellen davon reden, dass beispielsweise zwei Männer in der Öffentlichkeit ihre Zuneigung nicht zeigen dürfen, dürfen wir auch nicht unterschlagen, dass Mann und Frau das auch nicht dürfen. Es geht also nicht nur um Homosexualität, sondern Paare allgemein. Wenn das konsequent umgesetzt wird, werden auch heterosexuelle Paare Probleme bekommen. Nach aktuellen Vorstellungen ist das ein Problem. Wie ich es vor Ort erlebt habe, könnte es passieren, dass man dann ermahnt und einem mitgeteilt wird, dass es in der dortigen Kultur nicht erwünscht ist – aber man wird deswegen nicht sofort eingesperrt.
Die Nationalmannschaft wird in Katar mit einer "One-Love"-Binde auftreten, auf die bislang oft von Manuel Neuer getragene Regenbogenbinde wird verzichtet. Warum kuscht der DFB?
Dass Manuel Neuer in den vergangenen Jahren immer wieder die Regenbogenbinde getragen hat, ist erst einmal eine tolle Entwicklung. Zu meiner Zeit wäre das undenkbar gewesen. Ich glaube schon, dass diese Binde in Katar eine Provokation ausgelöst hätte – und die One-Love-Binde dies nicht tun wird.
Wie bewerten Sie insgesamt die Rolle des DFB in der Causa Katar? Hat er sich im Vorfeld des Turniers klar genug positioniert?
Der neue DFB-Präsident Bernd Neuendorf muss sich in seine neue Situation erst reinfinden. Auf ihm lastet seit Tag eins der Druck, sich klar und deutlich in der Angelegenheit "Katar" zu positionieren. Er hat sich so häufig und klar positioniert wie wohl kein anderer vor ihm. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Wird Bernd Neuendorf seinen Aufgaben gerecht?
Es herrscht deutlich mehr Ruhe im Verband als in den letzten Jahren. Das ist ein großer Gewinn und sein Verdienst. Er verdient die nötige Zeit, um seine Vorstellungen nach und nach umsetzen zu können. Die WM in Katar ist kein leichter Einstieg in solch ein wichtiges Amt.
Am 18. Dezember findet das WM-Finale statt. Glauben Sie an eine nachhaltige Wirkung des Turniers, die für eine positive Veränderung der Lebensrealität der Menschen sorgen kann?
Nein. Eins ist aber sicher: Katar wird auch nach der WM eine wichtige geopolitische und fußballpolitische Rolle spielen. Die Diskussionen wird es weiterhin geben, vor allem wenn sie in Deutschland investieren – siehe das Beispiel Bayern München. Jeder andere Bundesliga-Klub wird womöglich in die Versuchung kommen, Geld aus Katar anzunehmen. Die Kataris werden sich aber auch überlegen, wo sie ihr Geld strategisch sinnvoll investieren. In Deutschland, das haben sie gespürt, ist der Widerstand nicht gerade gering.
- Interview mit Thomas Hitzlsperger