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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Taktikanalyse der DFB-Pleite Der Fußball hat Löw überholt
Es war eine historische Pleite: Seit 89 Jahren hat eine DFB-Elf nicht mehr so hoch verloren wie gestern gegen Spanien. Das Team wurde beim 0:6 zum leichten Opfer – weil ein Konzept fehlte.
Deutschland hat eine heftige Niederlage gegen Spanien kassiert, die Fragen nach der Wettbewerbsfähigkeit der Nationalmannschaft aufwirft. Die 0:6-Klatsche war das Resultat eines nicht vorhandenen Spielkonzepts – das machte die DFB-Auswahl zu einem leichten Opfer.
Bundestrainer Joachim Löw entschied sich, für das Gastspiel in Sevilla beim 4-3-3 zu bleiben, das er zuvor gegen die Ukraine getestet hatte. Die Aufstellung an sich versprach einen forschen und offensiven Ansatz, denn allein mit İlkay Gündoğan und Toni Kroos bot Löw zwei Kreativkräfte im zentralen Mittelfeld auf. Dafür verzichtete er auf eine zusätzliche defensive Absicherung, die Robin Koch noch gegen die Ukraine übernommen hatte. Der 24-Jährige rückte stattdessen aus dem Mittelfeld in die Innenverteidigung und ersetzte dort Antonio Rüdiger.
Die Spanier formierten sich ebenfalls in einem 4-3-3 und hatten damit zumindest auf dem Papier keinen strukturellen Vorteil gegenüber Deutschland. Trotzdem wirkten sie von Beginn an wie die eindeutig überlegene Mannschaft. Während auf Seiten der DFB-Elf der Ball nahezu nie kontrolliert aus der eigenen Hälfte gespielt wurde, kombinierte sich Spanien mit Leichtigkeit über das gesamte Feld.
Kein Spielaufbau möglich
Die Gründe dafür waren vielschichtig, aber lassen sich neben einer gewissen individuellen Überlegenheit Spaniens vor allem auf die schlechten taktischen Strukturen des deutschen Teams zurückführen. Im Spielaufbau waren die ersten deutschen Linien weit auseinandergezogen und damit ein leichtes Opfer für Spaniens extrem aggressives Pressing, das gerade Gündoğan und Kroos immer wieder zu Rückpässen zwang, welche wiederum die deutsche Abwehr unter Druck setzten.
- Demütigung gegen Spanien: Jogi Löws Weg ist am Ende
Deutschland wusste sich teilweise nicht anders zu helfen, als den Ball mit langen Schlägen nach vorn zu befördern, wo er von den Angreifern selten kontrolliert werden konnte. Zumeist flog die Kugel nur über die Köpfe von Timo Werner, Serge Gnabry und Leroy Sané hinweg, die sich anschließend in aussichtslose Laufduelle begeben mussten. Deutschland schenkte also sehr schnell jegliche Kontrolle über den Ball her.
Spanier wie im Training
Daraus folgend ergab sich das zweite und noch folgenschwerere Unheil: Die DFB-Elf hatte keine Mittel, das Kombinationsspiel der Spanier zu unterbinden. Bis zum Spielende wurde nicht deutlich, worin überhaupt der defensive Ansatz bestand. Die Außenverteidiger standen in enger Manndeckung gegen Spaniens Außenstürmer und ließen sich deshalb auf die Flügel rausziehen. Die drei deutschen Angreifer standen etwas abgesetzt vom Rest der Mannschaft, hatten aber keine Möglichkeit, defensiven Zugriff im Pressing zu erzeugen. Und das Mittelfeldtrio rannte ständig nur dem Ball hinterher.
Die Spanier hatten es da sehr leicht: Zeitweilig wirkte es so, als würden sie nur eine Rondo-Übung aus dem Training wiederholen und die verteidigenden Spieler mit schnellen Direktpässen ins Leere laufen lassen. Als letzte Konsequenz musste die deutsche Innenverteidigung in einem viel zu großen Spielfeldabschnitt gegen teils mit hohem Tempo heranstürmende Angreifer verteidigen, was zwangsläufig nicht funktionieren konnte.
Joachim Löw wirkt ratlos
Bundestrainer Löw hatte auf diese fundamentalen taktischen Probleme keine Antwort. Zur Halbzeitpause bestand seine einzige wirkliche Maßnahme darin, Niklas Süle durch Jonathan Tah zu ersetzen, als ob ein Wechsel in der Innenverteidigung die strukturellen Schwächen beheben würde. Das leicht intensivere Pressing in der Anfangsphase der zweiten Halbzeit war allenfalls ein hilfloser Versuch, Spanien aufzuhalten. Löw wirkte alles in allem rat- und machtlos, was jeden Verantwortlichen und Fan bedenklich stimmen muss.
Der Bundestrainer hatte sich nach der blamablen WM 2018 vorgenommen, seine Mannschaft stärker auf Pressing- und Umschaltfußball auszurichten. Das Ballbesitz-liebende Spanien wäre in der Theorie also ein optimaler Gegner für die Deutschen gewesen, denn in solch einer Partie wird Deutschland nicht dazu gezwungen, das Spiel zu machen. Doch was dargeboten wurde, stand sinnbildlich für die letzten Jahre: Die DFB-Elf hatte kein scharf umrissenes Spielkonzept. Es war eine Mischung aus ängstlichem Ballbesitzfußball, semi-intensivem Pressing und ungenügenden Verteidigungsstaffelungen.
Die Probleme sind tiefgreifend
Schnell wurde in den Sozialen Medien der Ruf nach einer Rückkehr der geschassten Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller laut. Diese drei Veteranen hätten gestern Abend wahrscheinlich für etwas mehr Stabilität sorgen, aber die Niederlage und deutliche Unterlegenheit auch nicht verhindern können. Denn die Probleme sind tiefgreifender, als dass sie durch einige personelle Umstellungen zu beheben wären. Der Trainer steht in diesem Fall als Matchplaner und Taktiker in der Verantwortung.
Einfach ausgedrückt: Löw muss in den kommenden Monaten, sofern er im Amt bleibt, erst beweisen, dass er mittlerweile kein Auslaufmodell ist.
- Eigene Recherche