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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Nationalspieler Wagner "Wir verlieren uns – diese Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten"
Sandro Wagner beendete seine Karriere inmitten der Corona-Pandemie, nun blickt er zurück. Ein Gespräch über leidende Fußballer, die Rolle der Familie – und was er seinen Kindern empfehlen würde.
In seiner Karriere als Fußballer hat Sandro Wagner vieles erreicht: Er absolvierte 180 Bundesligaspiele, erzielte dabei 44 Tore und lief für Vereine wie Werder Bremen, Hertha BSC oder Bayern München auf. Dreimal wurde er Deutscher Meister, zweimal DFB-Pokalsieger. Sicherlich der Höhepunkt: Seine Berufung in die deutsche Nationalmannschaft im Juni 2017.
Abseits aller sportlichen Meriten: Wagner ist ein Unikat, bekannt für seine im Profifußball untypische direkte und ehrliche Art. Sagt der 32-Jährige etwas, dann meint er es auch so. Gerade dafür mögen ihn die Menschen. Nicht umsonst arbeitet er seit seinem Karriereende im August 2020 unter anderem als Experte für den Sport-Streamingdienst DAZN. Und auch zu gesellschaftlichen Themen bezieht Wagner Stellung.
Im Interview spricht er nun über die eigene Familie, gesundheitliche Probleme nach der Karriere – und Müsli-Rabatt-Codes auf Instagram.
t-online: Herr Wagner, der große Marco Van Basten sagte vor Kurzem, er würde, wenn er noch mal jung wäre, nicht mehr Fußballer werden wollen – die körperlichen Probleme aus der aktiven Karriere spüre er noch heute. Wie geht es Ihnen? Steigen Sie aktuell noch locker und leicht aus dem Bett?
Sandro Wagner (32): Van Basten ist eine Legende, aber seine Meinung teile ich ganz und gar nicht. Obwohl ich auch jeden Morgen große Probleme habe, aus dem Bett zu kommen. Meine Knie und mein Rücken sind sehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Direkt nach dem Aufstehen kann ich nicht meine Kinder tragen – was einem Zweijährigen schwer zu vermitteln ist. Auch meldet sich später meine Bandscheibe, wenn ich nur ein paar Minuten am Stück ein Kind auf dem Arm nehme. Aber ich würde die Schmerzen wieder in Kauf nehmen – sie erinnern mich auch immer an eine schöne Zeit, die ich nicht missen möchte.
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Haben Sie eigentlich schon zugenommen, seitdem Sie "Fußballrentner" sind?
Leider ja, vier Kilogramm. Ehrlich gesagt habe ich derzeit noch nicht genug Antrieb, wieder häufiger laufen zu gehen, auch wegen der körperlichen Probleme. Ich mache zu Hause Krafttraining, aber das nutzt nicht viel, um dem wachsenden Bauch entgegenzuwirken.
Früher als Fußballprofi waren Ihre Tage durchgetaktet: Training, Spiel, Heimfahrt zur Familie. Wie sieht Ihr Tagesablauf jetzt aus?
Ich habe ja vier Kinder – das heißt zunächst: Früh aufstehen und die halbe Mannschaft bereit für die Schule machen. Danach arbeite ich in meinem Büro, unter anderem an meinen Immobilienfirmen. Zudem absolviere ich derzeit meine DFB-Trainerausbildung, entweder in Duisburg oder über Online-Seminare. Auch mein Experten-Job bei DAZN nimmt viel Zeit in Anspruch, vor allem die Vorbereitungen: Ich schaue viele Spiele und mache mir jeweils mehrere Seiten Notizen. Und wann immer es trotz Corona möglich ist, hospitiere ich bei dem einen oder anderen Trainer. Zudem bin ich bei den U-Nationalmannschaften als Stürmer-Trainer aktiv und tausche mich viel mit DFB-Verantwortlichen aus.
Benedikt Höwedes, André Schürrle und Sie haben zuletzt frühzeitig ihre Karrieren beendet. Was antworten Sie Fußballfans, die sagen: Sie wussten das, was Sie als Fußballprofi hatten, gar nicht richtig zu schätzen?
Gar nichts. Das interessiert mich nicht. Ich entscheide für mein Leben und was ich wann machen möchte. Ich habe immer betont, wie viel mir der Fußball gegeben hat. Aber alles im Leben hat seine Zeit. Und es ist wichtig, jeweils rechtzeitig den Absprung zu finden. Ich hatte in meiner Spielerkarriere all meine Ziele erreicht – somit war für mich der Zeitpunkt gekommen, den nächsten Abschnitt anzugehen.
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Würden Sie Ihren Kindern eine Karriere als Fußballprofi empfehlen?
Ich empfehle meinen Kindern grundsätzlich gar nichts in irgendeine berufliche Richtung. Sie sollen sich komplett frei entfalten und selbst herausfinden, was für sie das Richtige ist. Und hinsichtlich des Sports geht es da in eine ganz andere Richtung: Meine Jungs spielen Eishockey und meine Töchter tendieren eher zum Reitsport. Das ist vollkommen okay, Hauptsache, sie haben Spaß daran.
Während der Karriere ist man ständig von der Familie getrennt. Glauben Sie, dass viele Fußballprofis unter diesem Umstand leiden?
Ja, definitiv, das ist für viele Fußballer sehr hart. Aber genauso für Menschen in anderen Bereichen. Ich weiß beispielsweise von vielen Topmanagern aus der Wirtschaft, die viel unterwegs sind und ebenso damit zu kämpfen haben. Aber bei einem Beruf mit gewissen Privilegien gehören auch negative Seiten dazu. Man kann nie alles haben.
Sie streben nun selbst eine Karriere als Trainer an. Wie würden Sie als Coach mit einem Spieler umgehen, dem die Entfernung zur Familie auf den Magen schlägt?
Ich würde ihn ehrlich fragen, ob der Fußball ihm das wirklich wert ist. Falls ja, dann muss man versuchen, eine Lösung zu finden, die dem Spieler hilft. Eventuell ihm an der einen oder anderen Stelle ein bisschen mehr Freiraum geben. Vielleicht ist es sinnvoll, ihm nach Spielen mal einen Tag länger Pause zu geben und ihn nach bestimmten Auswärtsspielen direkt heimreisen zu lassen. Das sind kleine Dinge, die aber meiner Erfahrung nach sehr wichtig für den Spieler sein können. Generell muss man heutzutage sehr individuell auf die Profis eingehen – ohne dabei den Teamgedanken zu vernachlässigen.
Immer wieder hört man von Fußballern, dass sie nach der Geburt eines Kindes sogar bessere Spieler geworden sind. Wie sehen Sie das? Und bieten sich daraus nicht auch Chancen für Vereine?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Bei mir war zunächst das Gegenteil der Fall. Ich hatte den Fokus anfänglich so stark auf meine Tochter und meine Familie gelegt, dass mir im Beruf der letzte Biss fehlte. Erst später, als meine Frau und Kinder in München bei Familie und Freunden waren, konnte ich wieder die entscheidenden Prozentpunkte mehr in den Fußball investieren. Das hat sich dann stark in meiner Leistung widergespiegelt. Man darf Privates und Berufliches nicht getrennt voneinander betrachten – beides muss im Einklang sein. Davon profitiert nicht nur der Spieler, sondern auch der Trainer beziehungsweise der gesamte Verein. In der Wirtschaft ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon länger ein großes Thema – dafür sollte sich auch der Fußball mehr öffnen.
Haben Sie Ideen, wie man Job und Familie als Fußballprofi besser unter einen Hut bekommt? Wie wollen Sie das als Trainer handhaben?
Ich würde versuchen, die Familie ein bisschen mehr in den Mannschafts-Alltag zu integrieren. Zum Beispiel, indem im Trainingslager auch mal die Familien dabei sein dürfen, damit sich alle besser kennenlernen. Oder gemeinsame Restaurantbesuche oder Kochabende, bei denen die Spieler ihren Frauen etwas servieren. Man kann nicht immer nur sagen, man sei eine Familie, man muss es auch leben. Es geht um kleine Aktionen, um ein echtes Wir-Gefühl zu entwickeln, sodass eine Atmosphäre entsteht, die letztlich auch leistungsfördernd ist.
Wie sehen Sie die Rolle des Profifußballs während der Corona-Pandemie? Gerade auch aus der Politik gibt es hier ja immer mal wieder Kritik.
Generell finde ich, dass sich der deutsche Profifußball aktuell hervorragend präsentiert. Die Hygienekonzepte sind beispielhaft, die Fans – und gerade auch die Ultras – zeigen sich extrem verantwortungsbewusst. Die meisten Spieler verzichten auf Gehalt, damit andere Vereinsmitarbeiter ihre Jobs behalten können. Weitere Profis gründen Hilfsorganisationen und spenden an karitative und medizinische Einrichtungen. Dass einige Politiker den Fußball dennoch gezielt nutzen, um sich öffentlich zu profilieren, finde ich dagegen alles andere als vorbildlich. Vorbildlich wäre es eher, wenn genau diese Politiker – ähnlich wie die Spieler – selbst mal symbolisch fünf Prozent ihres Gehalts spenden würden, wie auch in anderen Ländern.
Sie selbst sollen Ihre Gagen aus TV-Auftritten regelmäßig spenden. Stimmt das?
Das geht an Kinderhospize. Dort leben und arbeiten Menschen, die die wirklichen Helden in unserer Gesellschaft sind. Mehr möchte ich aber dazu nicht sagen, da so etwas für mich eigentlich selbstverständlich ist und das ganze Spendenthema keinesfalls populistisch rüberkommen soll.
Zurück zur Corona-Krise: Dass der Profifußball eine Sonderrolle hat, weil er anders als der Amateurfußball weiterlaufen darf, wird ebenso kritisiert. Wie sehen Sie das?
Schwieriges Thema, und ich möchte auf die konkreten Corona-Maßnahmen nicht näher eingehen, auch wenn ich dazu natürlich meine Meinung habe. Generell: Es gibt derzeit viele Risse in unserer Gesellschaft. Da finde ich wichtig, dass sich der Profi- und Amateurfußball nicht auseinanderdividieren lassen. Wir alle, die den Fußball lieben, müssen jetzt zusammenhalten. Jeder Kreisliga-Spieler ist ein genauso wichtiger Bestandteil unseres Fußballs wie ein Bundesligaprofi.
Welche Rolle kann der Profifußball in dieser speziellen Situation einnehmen?
Auch wenn der Profibereich aktuell selbst zu kämpfen hat, wurden bereits super Aktionen ins Leben gerufen, die den Amateursport unterstützen. Da geht es nicht immer um riesige Summen, sondern manchmal auch einfach um den Symbolcharakter. Der Amateursport tut mir aktuell sehr, sehr leid. Vor allem die Millionen Mitglieder, die ihrer Lieblingsbeschäftigung nicht nachgehen können. Sport ist so wichtig für das Wohlbefinden der Menschen – physisch und vor allem auch psychisch.
Stichwort Psyche: Vor knapp einem Jahr haben Sie im t-online-Interview die sozialen Medien stark kritisiert. Die Menschen kämen so nicht mehr in "echten" Kontakt miteinander, Sozialkompetenzen gingen verloren. Durch die Corona-Krise wird diese Entwicklung verstärkt. Welche Gefahren sehen Sie darin?
Wir verlieren uns – diese Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Und sie wird aktuell noch weiter befeuert. Auch durch fehlenden Mannschaftssport, der so wichtig für das gesellschaftliche Zusammenleben ist. Der echte soziale Kontakt zwischen Menschen geht immer mehr verloren, das liebevolle und respektvolle Miteinander, der reale Austausch von Emotionen – und zwar nicht durch irgendwelche Emojis. Das einzige, was ich machen kann: Ich werde meine Kinder so erziehen, dass sie niemals selbst Müsli-Rabatt-Codes bei Instagram bewerben …