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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Joachim Löw "Klinsmann hat 2004 nur angerufen, weil ich arbeitslos war"
Am morgigen Sonntag startet die DFB-Elf in die WM. Im Interview spricht Bundestrainer Löw vorher über seine Karriere, das Turnier und gemeinsame Essen mit der Kanzlerin.
Am morgigen Sonntag um 17 Uhr beginnt auch für Deutschland mit dem Duell mit Mexiko die WM 2018 in Russland. Im Interview auf t-online.de und sportbuzzer.de spricht Bundestrainer Joachim Löw vorher über die durchwachsene Vorbereitung. Er verrät, wie er 2014 nach dem WM-Titel seine Motivation wiederfand und was im Kanzleramt aufgetischt wird, wenn er zu Besuch ist.
Herr Löw, bei Ihren ersten beiden Weltmeisterschaften gewann Deutschland das Auftaktspiel jeweils mit 4:0, 2010 gegen Australien, 2014 gegen Portugal. Wie wichtig ist ein guter Start in das Turnier nun auch gegen Mexiko?
Sehr wichtig. Zum einen gibt es sofort Selbstvertrauen für den weiteren Verlauf. Zum anderen ist man nicht im zweiten Spiel gleich unter Druck. Ein guter Start kann die Mannschaft beflügeln.
Was löst der WM-Start in Ihnen aus?
Ich spüre eine große Vorfreude in mir. Die Turniere sind immer etwas ganz Besonderes. Für mich hat die WM noch mal einen höheren Stellenwert als eine EM. Es sind die besten Nationen von unterschiedlichen Kontinenten dabei, mit ganz unterschiedlichen Charakteristiken, die wir in Europa nicht so kennen. Ich freue mich wirklich, auch wenn ich weiß, was von uns erwartet wird. Aber jetzt, wo ich die Mannschaft seit ein paar Wochen zusammen habe, löst das bei mir vor allem eine gewisse Dynamik aus, da komme ich in einen Flow – das macht mir unglaublich Spaß.
Sie haben gesagt, dass Sie vor so einem Turnier nichts mehr nervös macht. Was macht Sie denn – fernab des Fußballs – noch nervös?
(überlegt lange) Es gibt immer Dinge im Leben, die einen unruhig werden lassen. Ein Mensch ohne Angst ist ja kein Mensch. Gewisse Ängste gibt es immer. Wenn wir aber über das Sportliche reden, habe ich keine Angst, weil ich schon so viele Erfahrungen gemacht habe, was alles passieren kann: Niederlagen, Verletzungen, äußere Umstände. Damit kann ich ganz gut umgehen. Im Vorfeld ist es sogar ganz gut für mich, wenn nicht alles rund läuft – wie zum Beispiel gegen Österreich. Daraus ziehe ich meine Erkenntnisse, das ist noch mal ein Aufrüttler und ein Signal, an manchen Dingen noch mehr zu arbeiten.
Sie haben mit der Mannschaft auch schlimme Dinge erlebt wie beim Terroranschlag in Paris. Auch in Russland besteht die Gefahr von Anschlägen. Schaffen Sie es, das auszublenden?
Das kann man ausblenden. Ich weiß, was bei so einem Turnier für die Sicherheit getan wird. Wir waren ja letztes Jahr beim Confed Cup in Russland und haben uns absolut sicher gefühlt, auch auf den Reisen. Wir sind sehr freundlich und offen empfangen worden. Deshalb gibt es da keine Ängste. Damals in Paris war es natürlich schon etwas anderes, ganz klar.
Hat Sie der Titelgewinn von 2014 verändert?
Ich glaube, dass so ein Erfolg einem noch mehr Gelassenheit gibt. Ich habe vollstes Vertrauen in meine Spieler, in mein Trainerteam, in unsere Qualitäten – auch das lässt mich ruhig sein. Und die Gewissheit, dass wir im Vorfeld alles getan haben, um erfolgreich sein zu können. Die Freude ist bei so einem Turnier größer als der Stress.
Ist das der Vorteil des Bundestrainers gegenüber einem Vereinstrainer?
Unter anderem. Ich habe zwischen den Turnieren die Gelegenheit, mich weiterzubilden. Ich sehe ein Spiel in Spanien, in England, beschäftige mich mit Mexiko, mit Kolumbien, mit dem Weltfußball. Das ist ein wahnsinniger Vorteil, um zu lernen. Rund um die Länderspiele hingegen ist die Zeit kurz, und das bereitet mir manchmal große Schwierigkeiten. Da beneide ich ein wenig meine Kollegen in den Klubs, die täglich mit den Spielern arbeiten können.
Nach einer langen Pause stelle ich mir oft die Frage, wo jetzt die Prioritäten sind in diesen wenigen Tagen. Bei und vor einem Turnier ist das natürlich anders, da hat man auch einen ganz anderen Zugang zu den Spielern. Man kann über Wochen viel näher an die Jungs rankommen, sie noch mehr wertschätzen oder auch Dinge ansprechen, die es zu verbessern gilt. Das ist gut.
Ist es schwieriger, als Nationaltrainer Weltmeister zu werden oder als Klubtrainer einen Verein über Jahre zu prägen und Titel zu holen?
Beides ist anspruchsvoll. Ich vermisse manchmal die tägliche Arbeit, aber weiß auch, gewisse Freiräume zu schätzen. Durch den Blick von oben, ohne den täglichen Druck, habe ich mich enorm weiterentwickelt, weil ich andere Dinge gesehen habe. Ich bin nicht in einer Liga gefangen.
Ich sehe andere Nationen, andere Mentalitäten, andere Spielstile – das hat mich unglaublich wachsen lassen, weil es die beste Weiterbildung ist, die es gibt. Wo gibt es welche Entwicklungen, was passiert in Asien, was in Südamerika? Beide Jobs sind anspruchsvoll, aber Weltmeister zu werden, das beste Team der Welt zu sein ist schon gigantisch. So ein Ziel kannst du ja mit einem Verein praktisch nicht haben.
Welche Unterschiede sehen Sie noch?
Ich denke manchmal, dass ich als Klubtrainer noch mehr Einfluss nehmen könnte, noch mehr weiterentwickeln könnte. Andererseits ist es großartig, in so ein Turnier zu gehen, wo die ganze Nation hinter dieser einen Mannschaft steht.
War es eigentlich Ihr Traum, Bundestrainer zu werden? Haben Sie jemals damit gerechnet?
Nein, um Gottes willen. Ich habe nicht mal eine Sekunde daran gedacht. Ich bin ja relativ jung ins kalte Wasser geworfen worden. Ich hatte eine Idee, einen Plan, aber habe nicht immer die richtigen Lösungen gefunden, wenn es irgendwo gehakt hat. Es ging durch ein Wellental, und ich war selbst auf der Suche nach meiner Linie, nach einem Gesamtbild.
Das hat auch was mit Unerfahrenheit zu tun. Ich muss ehrlich sein. Wäre ich nicht gerade arbeitslos gewesen, hätte Jürgen (Klinsmann, d. Red.) mich ja auch gar nicht angerufen. Und auch, als er mir 2006 gesagt hat, dass er nicht weitermacht, dachte ich, dass es für mich ebenfalls in eine andere Richtung weitergeht, dass ich wieder einen Klub übernehme. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich diese Mannschaft übernehmen würde.
Und zwölf Jahre später sind Sie die letzte Lichtgestalt des deutschen Fußballs …
(lacht) Nein, es gibt im deutschen Fußball einige, die sehr, sehr viel erreicht haben. Ich sehe mich nicht so, und ich sehe mich auch nicht in einer Komfortzone. Als Trainer musst du dich ständig neu beweisen, dich neu erfinden.
Sie haben einen persönlichen Draht zur Bundeskanzlerin. Schreibt Frau Merkel Ihnen während eines Turniers eigentlich auch mal eine SMS?
Der Kontakt zur Kanzlerin läuft eigentlich über Oliver Bierhoff. Wenn Sie viel Glück wünscht oder Glückwünsche ausrichten lässt, dann über ihn. Wir sind aber öfter mal im kleineren Kreis bei ihr eingeladen, was für mich immer hochinteressant ist, weil sie dann – genau wie ich – auch mal aus dem Nähkästchen plaudern kann, bei einem guten Essen oder einem Glas Wein. Und eines darf ich verraten …
Wir sind gespannt.
Ich habe der Kanzlerin mal nebenbei gesagt, dass ich gern Cordon bleu mag – mit Pommes oder Bratkartoffeln. Seitdem gibt es immer Cordon bleu mit Bratkartoffeln, wenn wir im Kanzleramt sind. Und der Koch macht das wirklich überragend.
Überragende Spieler hatten Sie schon einige während Ihrer Zeit als Bundestrainer: Lahm, Schweinsteiger, Ballack – wer war der Größte?
Jeder war auf seine Weise einmalig. Es gibt Spieler, die haben ein riesiges Talent und arbeiten immer hoch konzentriert, diszipliniert – das sind die Topstars. Das war Lahm, das war Schweinsteiger oder jetzt Toni Kroos, Mats Hummels, Jérôme Boateng, Thomas Müller, Sami Khedira oder Manuel Neuer. Dann gibt es Spieler, die haben weniger Talent, aber arbeiten noch intensiver, damit sie auf dieses Niveau kommen – das sind für einen Trainer sehr wichtige Spieler, weil auf sie absolut Verlass ist –, ohne vielleicht diesen genialen Moment zu haben. Und dann gibt es Spieler, die haben riesiges Talent, aber sind bequem. Das sind die Spieler, die zu Problemfällen werden können.
Wie schaffen Sie es eigentlich, sich immer wieder zu motivieren, obwohl Sie im Prinzip schon alles erreicht haben?
Ich muss zugeben, dass ich nach der WM 2014 schon einige Monate hatte, in denen ich meine eigene Begeisterung gesucht habe und mir neue Ziele setzen musste. Ich wusste: Wir sind auf dem absoluten Gipfel angekommen – wie soll es jetzt überhaupt weitergehen? Geht es überhaupt noch besser?
Und dann?
Ich habe in mich reingehorcht und gemerkt, dass ich auch ein Entwickler sein will. Ich sehe junge Spieler wie Kimmich, Goretzka, Werner, Brandt, Sané und entwickle dann Visionen: Wo können oder müssen diese Spieler in vier, fünf Jahren sein? Was kann man dafür tun? Und wie soll unser Fußball aussehen, den wir spielen wollen? Das war von Anfang an das Wichtigste für mich bei der Nationalmannschaft.
Wie meinen Sie das?
Deutschland war immer relativ erfolgreich bei Turnieren, aber die Art und Weise, wie Deutschland gespielt hat, 2000 oder 2004, die hat mir und auch vielen Fans nicht so gefallen. Das war enttäuschend. Ich habe damals zu Jürgen Klinsmann gesagt: Wir müssen wieder unseren eigenen Fußball spielen. Weil das, was wir können, können kleinere Nationen auch: rennen, kämpfen, grätschen. Das ist einfach zu wenig, das war mal in den 80er-Jahren so.
Das ist auch heute noch wichtig, aber das allein kann es nicht sein. Mir war klar, dass wir es mit diesem Stil nie wieder in die Weltspitze schaffen würden. Die deutschen Tugenden müssen auch das spielerische Element beinhalten. Und genau das habe ich auch 2014 gesagt: Wir sind Weltmeister, das ist toll, das ist klasse. Aber wenn wir da oben bleiben wollen, müssen wir alles hinterfragen – genau jetzt. Wir brauchen Veränderungen, und das wird auch nach diesem Turnier wieder so sein. In Katar werden wir wieder eine andere Mannschaft haben – und diese aufzubauen, das ist für mich schon jetzt eine riesige Motivation.
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