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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Stefan Effenberg "Messi hat recht – Deutschland hat keinen Superstar"
Stefan Effenberg schreibt Kolumnen für t-online.de. Nun spricht er im großen WM-Spezial-Interview Klartext – über den Fall Erdogan und Löw-Entscheidungen, die er anders getroffen hätte.
t-online.de: Herr Effenberg, endlich beginnt die WM – worauf freuen Sie sich am meisten?
Stefan Effenberg (49): Ich freue mich tatsächlich immer besonders auf die Mannschaften, die man nicht jede Woche sieht, also die Exoten: Peru, Saudi-Arabien, Panama. Die gehen oft unbekümmert in eine WM und spielen sich in die Herzen der Fans. Im Laufe eines Turniers wird man Fan – so wie von Island bei der EM 2016. Genauso gespannt bin ich auf die Favoriten, auch dort wird es Überraschungen geben, in diesem Fall negative.
Drei der letzten vier Weltmeister sind im darauffolgenden Turnier in der Vorrunde rausgeflogen.
Genau. Es ist sehr schwer vorherzusagen – aber eine große Fußball-Nation wird es sicherlich erwischen. Es kann auch mal Deutschland treffen, was ich natürlich nicht hoffe und glaube.
Wie bewerten Sie denn die Deutschland-Gruppe?
Für mich gibt es zwei Gruppen, die es in sich haben und die durchaus offen sind. Das ist zum einen die Gruppe D mit Argentinien, Island, Kroatien und Nigeria – und zum anderen ist das für mich die deutsche Gruppe mit Mexiko, Schweden und Südkorea.
Sie sehen die Gruppe also nicht als Selbstläufer?
Nein, das ist ganz sicher keine einfache Gruppe. Viele haben nach der Auslosung gesagt: "Kein Problem, da gehen wir locker durch." Ich sehe das ein bisschen anders. Mexiko ist ein Gegner, der den Deutschen richtig weh tun wird mit einer gewissen Aggressivität und Härte. Die Schweden haben Italien rausgeworfen, das sagt alles – und dann kommt mit Südkorea eine Unbekannte dazu. Deutschland müsste sich durchsetzen – trotzdem warne ich vor diesen Gegnern. Es ist auch kein Vorteil, gleich zu Beginn gegen Mexiko zu spielen. Südkorea wäre einfacher gewesen.
Ist die DFB-Elf für Sie deshalb auch kein Topfavorit?
Die deutsche Mannschaft gehört schon zum Favoritenkreis. Brasilien, Spanien oder Frankreich zähle ich auch dazu. Ich sehe aber keinen absoluten Topfavoriten bei diesem Turnier. Gespannt bin ich auf England – die haben ein Mega-Potenzial. Das Problem ist, dass sie sich nie als Team präsentiert haben in den letzten 20 Jahren. Das zeichnet dagegen die Deutschen aus. Lionel Messi hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass die deutsche Mannschaft keinen Superstar hat. Trotzdem muss man sie erst einmal schlagen. Denn genau das ist die größte Stärke.
Es gab diverse Diskussionen um den Kader – hat Joachim Löw die richtigen Spieler ausgewählt?
Ich habe gerade noch gehört, dass es offenbar auch Fragezeichen hinter der Fitness von Leroy Sané gab. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, weil er eine so starke Saison gespielt hat. Ich persönlich hätte Sané aufgrund seiner konstant sehr starken Leistungen in England mitgenommen – und ich hätte mich auch für Mario Götze und Sandro Wagner entschieden. Aber: Joachim Löw hat oft mit seinen Entscheidungen richtig gelegen. Ich hoffe für ihn, dass das auch diesmal zutrifft.
Für Sané war es ein schwerer Schlag.
Spannend ist immer die Frage, wie ein Spieler das verarbeitet, kurz vor dem Turnier aussortiert worden zu sein. Einige verkraften das nie, weil der Moment wirklich übel ist. Aber du musst deine Lehren daraus ziehen und antworten. Das ist der nächste Schritt in der Entwicklung. Schauen wir mal, ob Götze und Sané das schaffen.
Löw wird oft vorgeworfen, dass er vermehrt auf "glattgebügelte" Spieler setzt. Hat er nicht mit Wagner und Sané schon wieder die Typen rausgestrichen?
Das hat schon den Anschein, das ist richtig. Ich hoffe aber, dass die aktuellen Spieler trotzdem ihre Meinung äußern – und zwar deutlich und auch öffentlich. Ich sehe da Mats Hummels in der Verantwortung – und auch Toni Kroos. Der hat schon nach dem Test gegen Brasilien deutlich gesagt, dass sich einige steigern müssen. Das fand ich gut und das erwarte ich. Die Mannschaft hat also durchaus noch Typen – und das sollte auch so bleiben. Man soll nicht einschlafen, sondern Reizpunkte setzen – am besten in jedem Training.
Wie ist Ihre Meinung zum Fall Gündogan/Özil? Die beiden trafen den türkischen Präsidenten Erdogan und sind seitdem in den Schlagzeilen.
Gündogan wurde gegen Saudi-Arabien als Nationalspieler vom eigenen Publikum ausgepfiffen. Das ist mit das Schlimmste, was einem passieren kann. Mir ist das in Nürnberg 1994 auch widerfahren. Da stellt man sich viele Fragen. Zum Beispiel die, ob es das Wert ist, dieses Trikot zu tragen. Die Frage ist: Wie lange dauert das an? Ist das nur in einem Spiel der Fall oder länger? Dann ist es dramatisch.
Sie wurden damals aus der Nationalmannschaft geworfen, nachdem Sie den Mittelfinger gezeigt haben.
Der DFB war damals sehr konsequent und sehr schnell in der Entscheidung. Özil und Gündogan haben jetzt Glück gehabt, dass der DFB in diesem Fall inkonsequent und nicht schnell gehandelt hat.
Bedeutet das, dass Sie einen Rauswurf befürwortet hätten?
Wenn man auf gewisse Werte setzt, so wie das der DFB immer wieder vermittelt, dann kann die Entscheidung eigentlich nur so ausfallen, dass man die beiden Spieler rauswirft. Man dreht es sich beim DFB allerdings so, wie man es gerade braucht. Bei mir oder bei Uli Stein haben sie anders reagiert. Ich sehe dementsprechend auch keine klare Linie.
DFB-Manager Oliver Bierhoff sagte, er mache sich nun Sorgen um Özil und Gündogan: "Es beschäftigt Mesut und Ilkay schon sehr."
Es wird sicher nicht einfacher für die beiden. Sie wurden in der Nationalmannschaft durchaus kritisch beäugt aufgrund ihrer Leistungen. Nun spielt ein ganz anderer Faktor eine Rolle. Der Druck ist jetzt unvergleichlich höher. Aber sie haben sich beim DFB entschieden, dass die beiden im Kader sind, da müssen jetzt also alle Beteiligten durch. Ich möchte dazu noch eines klarstellen. Auch wenn ich sage, dass ein Rauswurf konsequent gewesen wäre, finde ich es nicht gut, wenn Boulevardmedien immer noch auf den beiden herumhacken. Die Entscheidung ist durch.
Özil ist fest in der WM-Elf eingeplant, Gündogan eher auf der Kippe. Wie sehen Sie die Aufstellung für das Mexiko-Spiel?
Du hast schon mal einen Spieler, der einen Riesenhals hat: Marc-André ter Stegen. Er hat eine starke Saison gespielt – nicht bei irgendeinem Verein, sondern beim FC Barcelona. Innerhalb von zwei Wochen ist ter Stegen von der Nummer eins zum Ersatztorwart geworden, weil Manuel Neuer trotz achtmonatiger Verletzung wieder spielen kann. Ich bewundere das, wenn ter Stegen da so einfach drüber hinwegkommt. Für Löw ist das ein hohes Risiko, das er da geht. Das kann sich auszahlen, das kann ihm aber auch um die Ohren fliegen.
Was glauben Sie, wer der Spieler der WM wird?
Das Potenzial haben einige: Neymar bei Brasilien, Messi bei Argentinien, Griezmann bei Frankreich oder Harry Kane bei England. Ronaldo hat nicht die Mitspieler, aber auch Toni Kroos als Herzstück von Real Madrid und Deutschland gehört dazu. Er hat sein Profil in den letzten Jahren enorm geschärft. Ich würde mich freuen, wenn er eine entscheidende Rolle spielt.
Wird Deutschland den Titel verteidigen?
Ich bin natürlich totaler Patriot und Deutschland-Fan, aber wenn ich es realistisch betrachte, würde ich mich festlegen und sagen: "Deutschland verteidigt den Titel nicht." Würde ich wetten, würde ich es so machen. Das ist meine Meinung – was nicht bedeutet, dass ich mich nicht über den Weltmeistertitel freuen würde.