Legendäre Nacht von Malente 1974 "Man würde uns zu Hause fertigmachen"
Ein Spieler packt kurz vor der WM seine Sachen und will gehen. Der Grund: das Geld. Die Kollegen boykottieren mit. Was heute kaum vorstellbar ist war vor 44 Jahren bittere Realität. Ein Rückblick.
In einer neuen Serie zur deutschen WM-Historie erzählt Autor Udo Muras die spektakulärsten Geschichten. In Teil zwei geht es um den Streit über die WM-Prämien von 1974.
Ob Deutschland wieder Weltmeister wird, wissen wir nicht. Was der Titel dem DFB wert ist, das schon: Bereits im vergangenen Dezember einigten sich Verband und Spieler auf stolze 350.000 Euro pro Kopf. So schnell und komplikationslos ging das nicht immer. Erst seit der langen Nacht von Malente – ein Rückblick auf das Jahr 1974.
Helmut Schön hatte genug gehört. „Mit diesem Sauhaufen möchte ich nichts mehr zu tun haben“, rief der Bundestrainer erregt in den späten Abendstunden des 4. Juni durch die Flure der Sportschule Malente und ließ sich eine Zugverbindung heraussuchen. Hamburg-Frankfurt-Wiesbaden. Verteidiger Paul Breitner von Bayern München packte sogar schon die Koffer, ein Taxi stand abfahrbereit vor dem WM-Quartier. Das Unternehmen Weltmeister 1974 stand im eigenen Land in jenen hitzigen Stunden, als es nur noch um das Geld und nicht mehr um Fußball ging, am Scheidepunkt.
30.000 DM für den Weltmeistertitel
Schon über den zweiten Tag hatte sich der spannendste Kampf der deutschen Nationalmannschaft während jener WM erstreckt – der gegen den eigenen Verband, und damit auch gegen Bundestrainer Helmut Schön. Der feinnervige Sachse wollte nicht glauben, was ihm sein Assistent Jupp Derwall als stiller Beobachter in regelmäßigen Abständen aus der Spielersitzung zutrug. Maßlos seien die Forderungen, respektlos der Ton, und der 22-jährige Rebell Paul Breitner immer vorne weg.
Aber es bewegte sich nichts. Im Streit um die Prämien hatten beide Seiten auf stur gestellt. Lediglich 30.000 D-Mark, wie schon 1970, wollte der DFB zunächst für den Weltmeistertitel zahlen, 25.000 für den Zweiten und 20.000 für Platz 3 – so als sei die Zeit stehen geblieben. Die Spieler argumentierten, dass der Verband bei einer WM in Deutschland riesige Gewinne machen müsse. Außerdem hatten sie gelesen, dass die Italiener das Vierfache bekommen sollten.
Spieler drohten mit Abreise
Nun saßen sie da im Aufenthaltsraum der Sportschule, alle 22, und debattierten seit halb zehn Uhr abends wild durcheinander. Die offizielle Forderung der Mannschaft betrug 75.000 D-Mark, obwohl einige 100.000, andere 120.000 für angebracht hielten. Ansonsten wollten sie abreisen und sich lieber um ihre privaten Geschäfte kümmern, was lukrativer wäre. Das war nicht ganz ernst gemeint, aber sie saßen am längeren Hebel und ahnten, dass es der DFB nicht darauf ankommen ließe.
Kapitän Beckenbauer feilschte im Auftrag der Mannschaft mit Delegationsleiter Hans Deckert, Spielausschuss Walter Baresel und Liga-Ausschuss-Mitglied Dr. Beyer, dem Präsidenten von Borussia Mönchengladbach. Das Trio vertrat den DFB in Malente. Deckert spielte während Beckenbauers Vortrag vor lauter Nervosität unentwegt mit seinem goldenen Füllfederhalter, ehe es aus ihm heraus platzte. Nun sprach er von „Erpressung“, die „schändlich für deutsche Sportsmänner“ sei, erhöhte aber das Angebot: 50.000 D-Mark pro Kopf. „Aber das ist das letzte Wort. Sage das Deinen Kameraden“, beschied er Beckenbauer.
DFB drohte mit Nominierung 22 anderer Spieler
„Einhellige Meinung: Angebot zu niedrig. Selbst auf Gefahr von Konsequenzen höhere Forderungen durchsetzen“, vertraute der Kaiser seinem Tagebuch an, das er kurz nach dem Turnier wiederum der Öffentlichkeit anvertraute – in einem WM-Buch. Beckenbauer: „Es ging jetzt weniger ums Geld als um die Demonstration eigener Stärke. Zum ersten Mal in der deutschen Fußball-Geschichte versuchte eine Mannschaft, der DFB-Führung ihren Willen aufzudrängen.“ Er holte sich für die nächste Verhandlungsrunde Verstärkung: Wolfgang Overath, Günter Netzer und Horst-Dieter Höttges wurden zu weiteren Unterhändlern bestimmt.
Die Konsequenzen, die der DFB angedroht hatte, waren lächerlich. Man wolle eben 22 andere Spieler nominieren und aus dem Urlaub zurückholen. Kicker aus Bremen, Duisburg oder Kaiserslautern, die sich in der B-Nationalmannschaft bewährt hatten – und das fünf Tage vor dem ersten Spiel gegen Chile, wo die Meldefrist längst abgelaufen war.
Günter Netzer: "Es geht ums Prinzip"
Der Verband wusste wohl selbst, dass dieser Funktionärs-Starrsinn nur eines bewirkt hätte: das Aus in der Vorrunde. Schließlich schlug Bundestrainer Schön, der neben den Funktionären saß, 60.000 DM vor, was den Spielern immer noch zu wenig war. Da sprang der „Lange“ auf und zeterte: „Ich bin sehr enttäuscht von der Mannschaft. Wir sind Sportsleute und keine Krämer. Jeder einzelne verdient doch im Verein genug Geld, um einmal auf 10.000 oder 20.000 DM verzichten zu können.“
Günter Netzer meldete sich zu Wort: „Es geht hier nicht um 10.000 Mark, es geht ums Prinzip“ und verwies auf die Phantasie-Prämien der Italiener und Holländer. Schön wurde fast weinerlich: „Merkt ihr denn nicht, wie ihr unser ganzes kameradschaftliches Verhältnis zerstört? Ich habe große Lust, abzureisen.“ Dann verließ er den Raum, nicht ohne Paul Breitner in Abwesenheit als „Rädelsführer“ und „Maoisten“ zu bezeichnen.
DFB und Spieler einigen sich
Nun meldete sich DFB-Präsident Hermann Neuberger, der in Hamburg weilte, am Telefon und bot 70.000 DM. Er versprach gar einen Aufschlag im Falle eines rentablen Kartenverkaufs. Beckenbauer gab den Hörer an den 22-jährigen Breitner weiter, den der Präsident aber nicht als Gesprächspartner akzeptierte. Er nannte ihn einen „Rotzlöffel“ und fing an zu schreien, wie Breitner erst nach 44 Jahren jetzt der „Sport Bild“ erzählte. Breitner will gekontert haben: „Wenn Sie noch mal schreien, fahrn wir alle heim. Dann können Sie einpacken.“ Neubergers Angebot aber galt noch, doch . Doch der halbe Kader war noch immer unzufrieden, die Abstimmung über das DFB-Angebot endete 11:11. Erst als Beckenbauer allen verdeutlichte, „dass dies das letzte Wort des DFB“ sei, war der Aufstand zu Ende. Das Ergebnis, mit dem sie um 1.30 Uhr in die Betten gingen: 15.000 DM Startprämie und 60.000 DM für den Titel (Ausrüster Adidas legte später noch 10.000 DM drauf).
Sieger gab es keine und ein Mann wie Schön verlor seinen Glauben. Es war ein unerhörter, einmaliger Vorgang. Sein Vorgänger Sepp Herberger hatte 1954 noch eigenmächtig die Prämie reduziert, um für die nötige Bodenhaftung der Berner Helden zu sorgen. Auch bei den späteren Turnieren war Geld kein Reizthema. Schön aber hatte es 1974 mit lauter Jungunternehmern zu tun, die nicht nur für Deutschland, sondern auch für ihren Geldbeutel spielten.
"Paul will abhauen, er packt schon"
Es war die Zeit, als die Bundesliga ihre ersten Millionäre gebar. All das zu akzeptieren, fiel dem 58-jährigen Schön schwer. Vor allem, dass die Unternehmer in kurzen Hosen mit Boykott drohten, kränkte ihn. Man werde sie auf der Straße anspucken, prophezeite "der Mann mit der Mütze" der Mannschaft in jener Nacht, als in Malente die Fetzen flogen. Sie beerdigte seine Illusionen endgültig.
Die Bild fragte Beckenbauer später besorgt, ob Schön Leuten wie Uli Hoeneß überhaupt noch gewachsen sei. Er antwortete: „Er ist ihnen gewachsen, haut ihnen auch mal eins auf den Zylinder. Aber er kann sie oft nicht verstehen. Die Jugend hat sich sehr geändert.“ In seiner ersten Erregung putzte Schön dann Breitner herunter, der bereits von Co-Trainer Derwall mit den Worten „Niemand braucht Dich, niemand will Dich“ abgekanzelt worden war. Was Folgen hatte. Nachts um drei meldete Gerd Müller seinem Zimmerpartner Beckenbauer: „Paul will abhauen, er packt schon.“
Seit 1974 keine Unruhen wegen der Prämienfrage
Der bestätigte den besorgten Kollegen – im Zimmer standen Netzer, Overath, Hoeneß und Müller – seine Intention: „Hier sind Äußerungen gefallen, die es mir verbieten, mit dem Mann noch zusammenzuarbeiten.“ Gemeint war Schön. Beckenbauer appellierte an Breitners Gewissen: „Denk an die Presse. Wenn wir jetzt alle auseinanderlaufen, keiner von uns hätte noch seine Ruhe. Man würde uns zu Hause fertigmachen.“ Breitner überlegte, schlug den Kofferdeckel zu und knurrte: „Scheißfußball.“ Er blieb.
Am Morgen nach der letzten Prämien-Pokerrunde sah man Schön und Breitner am Rande des Trainingsplatzes Frieden schließen, eine Stunde lang. Ihre Abreisepläne beerdigten sie zum Glück beide. Das Auftaktspiel vier Tage später gegen Chile gewann Deutschland 1:0 durch ein Tor von Breitner. Auch im WM-Finale gegen die Holländer traf er und sie holten sich die hart erkämpfte Prämie. Und sie lernten aus den Vorfällen.
„Noch ehe wir Quartier bezogen hatten, hätte die Prämienfrage geklärt werden müssen. Man hat es nicht getan, weil Geld im deutschen Fußball etwas ist, wovon man nicht spricht.“, schrieb Franz Beckenbauer 1975 in seiner Biographie „Einer wie ich“. Das war das letzte Mal so, fortan wurde diese Frage schon Wochen vor den Turnieren geklärt. Wenn es trotzdem manchmal Unruhe gab – an der Prämienfrage hat es seit 1974 nicht mehr gelegen.
- Recherche im eigenen Archiv