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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bemerkenswerte Szene Dieser Schuss lässt die ganze Arena erzittern
Ein Schuss wie ein Strahl. Kein Tor, aber eine eindrucksvolle Demonstration der neuen Machtverhältnisse im Weltfußball. Nigeria macht es vor.
Aus Brisbane berichtet Christoph Cöln.
Vermutlich konnten Brisbanes Seismologen um 17.46 Uhr Ortszeit eine leichte Erschütterung im Herzen der Stadt feststellen. Denn in diesem Moment nahm Nigerias Ashleigh Plumptre all ihren Mut zusammen und legte ihn in einen Schuss von der Strafraumgrenze. Mit weit über 100 Kilometern pro Stunde krachte der Ball an die Latte des englischen Gehäuses beim WM-Achtelfinalduell beider Länder. Eine bemerkenswerte Szene, die das Erdbeben, das sich aktuell im Weltfußball vollzieht, eindrucksvoll versinnbildlichte.
Die 49.800 Zuschauer im ausverkauften Brisbane Stadium schrien auf, einige riss es von den Sitzschalen. Sie konnten gleich stehenbleiben, denn nur Augenblicke später war Plumptre erneut für den Außenseiter zur Stelle. Diesmal hob sie die Kugel aus geringfügig kürzerer Distanz Richtung Mary Earps. Englands Torfrau, die sich kurz zuvor noch vergeblich gestreckt hatte, parierte nun glänzend und lenkte den Ball zur Ecke.
Es wäre die Führung gewesen im Spiel der Europameisterinnen gegen das Team aus Afrika. Die "Super Falcons", wie Nigerias Fußballfrauen genannt werden, hatten eine engagierte erste Hälfte geboten, in der sie den haushohen Favoriten mehrfach in arge Bedrängnis brachten. Das war so von den wenigsten Experten erwartet worden.
Daheim in Westafrika blickten die Fußballfans gebannt auf das Duell gegen England, das hatten Nigerias Fußballerinnen schon nach dem Spiel gegen Irland erzählt. "Es gibt so viele Leute, die derzeit auf uns schauen in Nigeria", sagte Stürmerin Rasheedat "Rash" Abijade, "und ich weiß, dass wir ihnen Freude bereiten können, wenn wir gut spielen und dass wir ihnen die Sorgen nehmen."
Während der Pandemie kam der Geisteswandel
Das taten sie in diesem Achtelfinale der Frauen-Fußball-WM mit Leidenschaft. Sie begeisterten ihre Landsleute. Bis 1960 war Großbritannien als Kolonialmacht aufgetreten. Erst danach erlangte Nigeria seine Unabhängigkeit. An diesem Abend, gut sechzig Jahre später, sollten sich die beiden Nationen auf Augenhöhe begegnen, zumindest auf dem Fußballplatz.
So wie bei vielen anderen Spielen zuvor war auch beim Duell England gegen Nigeria kaum noch auszumachen, wer die Top-Nation ist und wer der Emporkömmling. Die Afrikanerinnen spielten selbstbewusst, gut organisiert und körperlich äußerst robust. Sie stehen stellvertretend für eine Machtverschiebung. Es tut sich einiges im Weltfußball der Frauen, dafür ist diese WM der Beweis.
Kaum jemand verkörpert das besser als Nigerias Außenverteidigerin. Ashleigh Plumptres Geschichte ist eine besondere. In England als Tochter einer britisch-nigerianischen Familie in dritter Generation geboren, spielte sie zunächst für englische Jugendauswahlen, bevor sie sich während der Corona-Pandemie 2021 dazu entschied, für das Heimatland ihres Großvaters aufzulaufen.
"Hilft mir dabei, an mich selbst zu glauben"
Eine bewusste Entscheidung, denn sie musste erst zu ihren Wurzeln finden, um mit sich ins Reine zu kommen, wie die 25-Jährige nach dem Spiel gegen Irland erzählte: "Ich komme aus einer kleinen Stadt in Mittelengland, ich bin ständig nervös und ich habe kein besonders ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Ich weiß, das sollte man nicht sagen, aber ich tue es trotzdem."
Sie stelle sich den unangenehmen Situationen, dem Druck auf dem Platz, der Öffentlichkeit als Profifußballerin. Plumptre spielte bis zur vergangenen Saison für den englischen Erstligisten Leicester City. Und sie wächst daran, wie sie sagt. Ganz besonders bei dieser WM. "Ich habe gelernt, wie ich als Mensch etwas aus solchen unangenehmen Situationen ziehen kann, wie ich wachsen kann. Das gibt mir unheimlich viel und der Fußball hilft mir dabei, an mich selbst zu glauben."
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Diese bemerkenswerte Offenheit ist charakteristisch für viele Spielerinnen bei diesem Turnier. Man trifft bei den weiblichen Profis häufig auf diese Form der kritischen Selbstreflexion, auf einen ehrlichen und auch wohltuend selbstironischen Blick auf sich selbst und den Fußball, in dem inzwischen auch bei den Frauen so viel auf dem Spiel steht.
"Wenn es eine Sache gibt, die ich den jungen Spielerinnen mitgeben müsste, wäre es vielleicht das: 'Eure Verletzlichkeit könnt ihr in eine große Stärke verwandeln'", sagte Plumptre vor dem Spiel gegen ihr Heimatland England. Was das bedeutet, hat sie in dieser 16. Minute eindrucksvoll demonstriert. Es war ein Erdbeben des neuen Selbstbewusstseins.
Daran änderte auch das Endergebnis nichts. Im Elfmeterschießen setzte sich England durch, hatte dabei aber großes Glück.
- Eigene Beobachtungen bei den WM-Spielen und in der Mixed Zone.
- Gespräch mit Ashleigh Plumptre.