Frühes WM-Aus Gefesselt und an die Leine gelegt
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die deutsche Mannschaft ist sang- und klanglos bei der Frauen-WM nach der Vorrunde ausgeschieden. Für t-online-Kolumnistin Tabea Kemme nur Symptom eines tieferliegenden Problems im deutschen Fußball.
G’Day aus Australien,
nach nur drei Partien muss das deutsche Team bereits die Koffer packen. Als die Schiedsrichterin am Donnerstag das Spiel abpfiff, war ich geschockt. Ich gehe immer positiv und optimistisch in alle Spiele rein – in Brisbane lief es komplett anders. Respekt an Südkorea, die das super gemacht haben und von Trainer Colin Bell top eingestellt wurden. Sein Matchplan ist zu 100 Prozent aufgegangen.
Deutschland hat keine Lösungen gefunden, war nicht flexibel, hatte von Beginn an kaum Selbstvertrauen, sodass am Ende dieses brutale WM-Aus steht. Woran hat es gelegen? Ich sehe strukturelle Probleme, die sich durch die Mannschaft und auch durch den deutschen Fußball ziehen. Wir lernen es nicht, Entscheidungen zu treffen.
In Deutschland spielen wir strategischen Fußball, geben der Intuition keinen Raum. In der Theorie kennen die Spielerinnen jede Lösungsmöglichkeit, auf dem Platz muss man manchmal instinktiv Entscheidungen treffen. Insbesondere in den ersten Minuten wirkte die Mannschaft gehemmt und verunsichert. Es wirkte so, als wären sie gefesselt, an eine Leine gebunden. Jede Spielerin ist aber verantwortlich, sich von diesen Fesseln zu lösen und den notwendigen Mut aufzubringen, das eigene Spiel durchzusetzen. Deutschland hat ein Problem in seiner Spielphilosophie.
Es ist unsere Mentalität, alles strukturell geplant durchzuziehen und nichts dem Zufall zu überlassen. Das fängt beispielsweise schon mit der Wahl des Base Camps an, das 100 Kilometer von Sydney entfernt und derart abgeschottet war.
Zurück zur Partie gegen Südkorea. Das Spiel der deutschen Mannschaft war, wie so oft, stark auf Alexandra Popp ausgerichtet. Ihre Position war in dem Spiel recht defensiv. Natürlich ist Martina Voss-Tecklenburg für die Mannschaft verantwortlich. Die Entscheidung, wie man sich auf dem Platz in welchen Situationen verhält, die liegt aber auch bei den Spielerinnen auf dem Platz. Fußball ist keine Einbahnstraße. Egal ob jung oder alt: die Spielerinnen müssen Verantwortung übernehmen. Und die habe ich im Spiel gegen Südkorea zu wenig gesehen.
Allerdings habe ich mich auch gefragt, warum es von Spiel zwei auf drei auf einmal eine Systemumstellung gab, anstatt seiner eigenen Linie zu folgen. Nach dem Motto: Kontrolle vor Vertrauen. So gewinnt man kaum mehr Spiele. Der Matchplan muss von innen kommen. Die Verunsicherung im Team aufgrund des Systemwechsels war zu spüren. Was hätte man anders machen können? Ich glaube, dass Lina Magull als kreative Spielerin, die den Ball halten und Steckpässe spielen kann, der Mannschaft gestern unfassbar gutgetan hätte. Ein Schlitzohr vor der Kette. Man wollte aber eher auf das Flankenspiel setzen, braucht jedoch eine Kombination aus beidem – und die hat gefehlt.
Als das Spiel vorbei war, habe ich nicht ansatzweise daran gedacht, ob Martina nun zurücktreten könnte. Diese Forderung nach Veränderung auf der Trainerinnenposition ist ein automatischer Reflex nach Misserfolg. Da schwappt ganz viel vom Fußball der Männer auf den Fußball der Frauen über, was ich als sehr problematisch sehe.
Wir brauchen nun ein klares Bekenntnis vonseiten des Verbandes zum Fußball der Frauen. Die Frauenteams bekommen selten einen Vertrauensvorschuss. Es sind harte Verhandlungen zwischen Spielerinnen und Verband, die nicht zufriedenstellend sind. In der Liga gibt es jetzt mit Google Pixel einen neuen Sponsor, auf der Bundesligasaison liegt jetzt in ein paar Wochen der Fokus, auch wenn dieses historische WM-Aus eine herbe Niederlage war. Angst, dass der Hype im und um den Fußball der Frauen vorbei ist, habe ich keine. Das Turnier war ein Flop, da müssen wir nicht herumreden.
Ein Turnier ist eben immer eine Leistungsprobe. Eine, die das deutsche Team in Australien nicht bestanden hat. Die nächste Herausforderung mit der Qualifikation für die olympischen Spiele 2024 wartet schon.
- Tabea Kemme spielte von 2013 bis 2018 für die deutsche Nationalmannschaft, wurde 2016 in Rio Olympiasiegerin. Bei der WM 2023 arbeitet sie vor Ort unter anderem für t-online als Kolumnistin. Ab der kommenden Spielzeit ist sie neben ihrem Experten-Job in der Männer-Bundesliga bei Sky auch für MagentaSport als TV-Expertin der Frauen-Bundesliga aktiv.