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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gigantische Zahlen, große Sorgen Hat dieses Turnier überhaupt eine Chance?
Gemeinsam mit Neuseeland richtet Australien die Frauenfußball-WM aus. Die Erwartungen im Land sind riesig. Doch die Nationalelf plagen kurz vor dem Turnier große Sorgen.
Aus Brisbane berichtet Christoph Cöln.
Die Zahlen sind gigantisch. Wer dieser Tage die australischen Zeitungen aufschlägt, kommt gar nicht vorbei an den Superlativen der Fußballweltmeisterschaft der Frauen. Anderthalb Millionen Fans in den Stadien, zwei Milliarden Zuschauer vor den Fernsehern, und eine rund 500 Millionen Dollar schwere Finanzspritze für die einheimische Wirtschaft. Die Zahlen können sich sehen lassen. Nur muss man sie erst mal finden.
In den Zeitungen dominiert derzeit nur ein Thema: Cricket. Da stehen sich England und Australien im alle vier Jahre nur zweimal ausgetragenen Ländervergleich "The Ashes" gegenüber, und Australien liegt hinten. Schon jetzt titeln die Berichterstatter von einer "epischen Schlacht" und einem "Match für die Geschichtsbücher".
Wer hingegen etwas über die Fußball-WM der Frauen erfahren will, muss schon weit nach hinten blättern. Dabei sind es nur noch vier Wochen, bis der Fußball in down under rollt. Doch schon jetzt hat das Turnier den Blick auf die Sportnation Australien bei manchem verändert, wie der Sportkolumnist Stuart Thomas jüngst feststellte: "Es fühlt sich gerade richtig gut an, Fan des australischen Fußballs zu sein."
Die Erwartungen, die an das Turnier geknüpft werden, sind in Australien und Neuseeland, den beiden Co-Gastgebern, jedenfalls groß. Fußball spielt in der heimischen Sportszene bislang eine untergeordnete Rolle, es dominieren Sportarten wie Australian Football, Cricket und natürlich Rugby. Die Fußball-WM der Frauen könnte der Sportart nun enormen Auftrieb geben und zugleich auch der Gleichberechtigung einen kräftigen Schub verleihen, im Sport, aber auch im Rest der australischen Gesellschaft.
Dreimal häufiger im Viertelfinale gestanden als die Männer
Eröffnet wird das Turnier mit dem Spiel der Neuseeländerinnen gegen Norwegen (9 Uhr MESZ). Für die australischen Co-Gastgeberinnen geht es wenige Stunden später mit der Partie gegen Irland los (12 Uhr MESZ) – vor der Kulisse von voraussichtlich 83.500 Zuschauern.
Die Partie war wegen der hohen Ticketnachfrage vom kleineren Sydney Football Stadium ins größere Olympiastadion von Sydney verlegt worden. Alleine dieses Spiel wird den australischen Fußballfrauen also einen Rekord bescheren, denn nie zuvor spielten sie zu Hause vor größerem Publikum (im Jahr 2021 traten sie vor etwas mehr als 36.000 Fans gegen die USA an).
Die "Matildas", wie die australische Frauen-Nationalmannschaft genannt wird, wollen noch weitere Rekorde brechen. Dreimal standen sie bislang im Viertelfinale einer Fußball-WM, und damit dreimal mehr als ihre männliche Pendants, die "Socceroos". Bei ihrem Heimturnier soll es möglichst zum ersten Mal ins Finale gehen.
Angerer sah im Angesicht von Kerr rot
Unumstrittener Star des Frauen-Nationalteams ist Sam Kerr. Die 29-jährige Stürmerin in Diensten des FC Chelsea London gilt als eine der besten Angreiferinnen im Weltfußball. In Australien ist Kerr längst ein Superstar des Sports. Nicht nur wegen ihrer spektakulären Rückwärtssalti, mit denen sie ihre Tore häufig feiert. "Sie ist derzeit eine der aufregendsten Fußballerinnen", sagte die US-amerikanische Stürmerin Jessica McDonald dem "Sydney Morning Herald".
"Ich werde nie vergessen, wie sie Nadine Angerer mal so schwindelig gespielt hat, dass die sich nur mit einer Roten Karte helfen konnte." 2014 war das, bei einem Spiel der höchsten US-Frauen-Fußballiga, Angerer stand wie McDonald für die Portland Thorns auf dem Feld, Kerr spielte eine Saison für die New York Flash.
"Ich dachte mir nur: Wer ist dieses Mädchen?", erinnert sich McDonald. "Sie hat uns an diesem Tag auseinandergenommen. Sie hat uns richtig wehgetan".
Nicht länger im Schatten der Männer spielen
Kerr gilt nicht nur als Aushängeschild ihrer Sportart, sie ist für viele jüngere Australierinnen auch zum Vorbild geworden. Wie das gesamte Team der Matildas. "Ich weiß, wie wichtig es ist, Vorbilder zu haben, Menschen, zu denen man aufschauen kann", sagte Kerr kürzlich bei einem Auftritt in ihrer Heimatstadt Perth.
Die Weltmeisterschaft ist nicht nur sportpolitisch und wirtschaftlich ein Meilenstein für das Land. Auch beim Thema Geschlechtergerechtigkeit soll sich durch das Turnier einiges zum Besseren ändern. Schon jetzt haben die durch die WM angestoßenen Investitionen viele Bereiche der fußballerischen Infrastruktur erneuert. Weitere sollen folgen.
Die Sportsoziologin Fiona Crawford spricht vom enormen Einfluss, den die Frauen-WM auf Australien und Neuseeland haben könne. "Das (Turnier) an sich bedeutet Aufmerksamkeit und finanzielles Engagement. Auch wird die Regierung ein Auge darauf haben, dass die Geschlechtergerechtigkeit verbessert wird, nicht nur im Fußball", sagte sie dem TV-Sender ABC. "Dass wir das Turnier überhaupt austragen dürfen, ist also der größte Gewinn."
Crawford hat ein Buch über die "Matildas" geschrieben, sein Titel: "Der Matilda-Effekt". Der Titel ist bewusst gewählt, denn mit dem Begriff "Matilda-Effekt" bezeichnet man in der Wissenschaft das Phänomen, dass die Forschungsleistungen von Frauen lange Zeit übersehen oder gering geschätzt wurden. Während forschende Männer zumeist im Rampenlicht standen. Im Fußball ist es ähnlich – doch das ändert sich.
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Ins Rampenlicht wollen die "Matildas" bei der Heim-WM natürlich auch sportlich. Die Chancen dafür stehen zumindest bei den Buchmachern nicht schlecht. Die sehen die australischen Fußballerinnen momentan eher im Halbfinale als die in der Fifa-Weltrangliste weit höher platzierten Schwedinnen. Erst im November gelang den "Matildas" ein Sieg gegen die damals noch Weltranglisten-Zweiten aus Skandinavien. Im Februar gewannen sie dann sogar gegen die starken Engländerinnen, einen der Mitfavoriten auf den Weltmeistertitel.
Das Team plagen derzeit große Verletzungssorgen
Momentan plagen die "Matildas" jedoch große Verletzungssorgen. Sportlich regiert eher das Prinzip Hoffnung. "Wir sind gerade nicht in Bestform", sagt auch Superstar Sam Kerr bei ABC. "Aber wir arbeiten seit vier Jahren auf diese WM hin und jetzt haben wir noch vier Wochen Zeit, um in Bestform zu kommen."
"Für den Turniersieg kommen einige Teams infrage, auch die Australierinnen", sagte Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegmann im März, nachdem ihre Mannschaft 0:2 gegen das Team um Starstürmerin Sam Kerr verloren hatte.
Und wenn doch wieder im Viertelfinale Schluss ist? Dann werden auf jeden Fall mehr Menschen diesem Sportevent beigewohnt haben, als jemals zuvor bei einer Frauen-WM. Die Fifa rechnet sogar mit 90 Prozent mehr Zuschauern als bei der WM 2019 in Frankreich.
Australien und Neuseeland haben also auf jeden Fall schon gewonnen. "Dass wir das Turnier überhaupt ausrichten, hat das Potenzial, das Spiel in unserem Teil der Welt für immer zu verändern", prophezeit Sportkolumnist Stuart Thomas im Fachmagazin "Roar". "Vor allem für junge Mädchen."
- theroar.com.au: "Beautiful game in a beautiful place: Australia on the verge of becoming a real football nation" (englisch)
- sport.optus.com.au: "Matildas given 38,000 boost as opening game moves from Sydney Football Stadium" (englisch)
- abc.net.au: "Sam Kerr visits Perth before meeting up with Matildas for FIFA Women's World Cup" (englisch)
- theaustralian.com.au: "Six players face cruel cut as Matildas WC squad revealed" (englisch)
- abc.net.au: "The Matilda Effect: The rise and rise of women’s soccer in Australia" (englisch)
- foxsports.com.au: "‘Can beat the best’: Matildas send huge World Cup message despite injury hell — Talking Points" (englisch)
- abc.net.au: "Matildas record historic 4-0 victory over world number two Sweden in Melbourne" (englisch)
- smh.com.au: "‘Nothing short of amazing’: Why Sam Kerr is unstoppable" (englisch)
- dailytelegraph.com.au: "Festival of football to reignite love of soccer in Australia, New Zealand" (englisch)
- smh.com.au: "Ashes 2023 first Test as it happened: Australia finish day four on 3-107, require 174 runs to win" (englisch)
- fifa.com: "Countdown zur FIFA Frauen-WM: noch 46 Tage"
- fifa.com: "FIFA-Weltrangliste (Frauen)"
- nrl.com: Webseite der National Rugby League
- footballaustralia.com.au. Webseite des australischen Fußballverbands