Motivationsexperte empfiehlt "Bayern muss Dominanz in Deutschland aufgeben"
Der FC Bayern dominiert die Bundesliga seit Jahren nach Belieben. International hatte er aber erneut Probleme und verlor nun auch das Pokalfinale. Ein Motivationsexperte glaubt zu wissen, warum.
Ist der FC Bayern im Liga-Alltag chronisch unterfordert? Rechnet man die vergangenen sechs Spielzeiten zusammen, hat er 134 Punkte mehr geholt als das zweitbeste Team Borussia Dortmund. Seit mehr als einem halben Jahrzehnt wird nur noch der FC Bayern Deutscher Meister.
Stress und Belastung kennen die Profis über das Jahr verteilt kaum noch. Nach Ansicht von Steffen Kirchner, einem der führenden sportpsychologischen Berater und Mentaltrainer hierzulande, hat das weitreichende Folgen – für den Saisonendspurt und gerade die Ambitionen in der Champions League. Im Interview mit t-online.de rät Kirchner, zur Not die Meisterschaft zu riskieren, um wieder bessere Chancen auf den Titel in der Königsklasse zu haben. Und um nicht wie in diesem Jahr den DFB-Pokalsieg zu verspielen.
t-online.de: Herr Kirchner, kann man sagen, dass die Bayern-Spieler krank sind?
Steffen Kirchner: Nein. Sie haben aber eine Schwäche, denn sie kommen in der Bundesliga zu selten an ihr Stress- und Belastungslevel. Das ist vergleichbar mit einem Bore-out, das wir aus der Arbeitswelt kennen. 50 Prozent der Menschen, die denken, sie haben einen Burn-out, leiden in Wirklichkeit an einem Bore-out. Das heißt, sie haben zu wenig Reize oder machen zu häufig nur dasselbe.
Wie wird dieses Symptom bei Sportlern sichtbar?
Wir müssen uns klarmachen: Der Mensch verfügt einmal über körperliche, aber dann auch, was viele nicht wissen, über mentale Muskeln wie Willenskraft, Konzentrationsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit, Fokussierung. Die kann man überbeanspruchen oder vernachlässigen. Aus der Sportmedizin wissen wir: Jeder Muskel, den man nicht nutzt, atrophiert. Das heißt, er bildet sich erst gar nicht aus oder baut sich nach und nach ab.
Klingt nach gezieltem Training für die Psyche.
Exakt. Jeder Sportler braucht Wachstum, um stärker zu werden. Egal, auf welchem Niveau er agiert. Und Wachstum ist nur durch steigende Belastung möglich. In dem Fall durch spezielle mentale Reize. Denn ohne Belastung wächst kein Muskel. Alles andere ist nur Erhaltung. Das erleben die Spieler des FC Bayern seit Jahren in der Bundesliga.
Steffen Kirchner ist sportpsychologischer Berater und Mentalcoach. Er zählt im Bereich der Motivations- und Erfolgs-Psychologie zu den führenden Experten im deutschsprachigen Raum. In den vergangenen Jahren hat er mehr als 500 Profisportler/Innen, Teams und Unternehmen beraten. Darunter Nationalkader-Athleten oder Unternehmen wie Audi, Siemens oder RWE.
Sie meinen, weil die kaum gefordert werden?
Fakt ist: Für die Bayern gibt es nicht genügend Belastung in der Bundesliga – weder spielerisch noch körperlich und erst recht keine psychische Belastung. Die Spieler müssen nicht auf höchstem Stresslevel agieren. Ihre mentale Muskulatur wird in der Liga kaum beansprucht. Man sieht, wozu das führt, wenn wirklich wichtige Spiele anstehen.
Sie spielen auf das Pokalfinale gegen Frankfurt und zuvor die beiden Spiele im Halbfinale der Champions League gegen Real Madrid an.
In denen Bayern zweimal die bessere Mannschaft war und trotzdem ausgeschieden ist.
Woran hat es gelegen?
Weil die Mannschaft mental nicht gewappnet war für ein Duell mit einem Topteam auf Augenhöhe. Zumindest nicht so gut wie Real. Im Sport reicht High-Performance gegen High-Performer manchmal nicht aus. Es haben genau diese ein, zwei Prozent des zusätzlichen Leistungsvermögens gefehlt, die man bei mentaler Vollbelastung hätte abrufen können. Es geht dabei gar nicht mal um die 90 Minuten an sich. Sondern um die Wochen und Monate davor. Schon da muss das Stress- und Belastungslevel hochgefahren werden. Was nur schwer möglich ist, wenn in der Bundesliga die Herausforderungen fehlen.
Was können die Bayern dagegen tun? Ihren Kader freiwillig schwächen werden sie kaum.
Ganz ehrlich? Der FC Bayern muss bereit sein, die Deutsche Meisterschaft zu riskieren, um sich international weiterzuentwickeln. Man könnte sich zum Beispiel die Frage stellen, ob man nicht doch für eine Änderung des Spielmodus eintritt. Zum Beispiel für Playoff-Spiele.
Erklären Sie das mal Uli Hoeneß. Dessen Credo war bislang: Wer sich Erfolg erarbeitet, darf dafür nicht bestraft werden.
Unter rein sportlichen Gesichtspunkten hat er damit ja auch absolut recht. Aus sportpsychologischer Sicht würde ich dem FC Bayern dennoch raten: Setzt euch dafür ein.
Mit welcher Intention?
Weil die Drucksituation für die Mannschaft, für jeden einzelnen Spieler, spürbar zunehmen würde. Auch der FC Bayern kann an einem schlechten Tag mal Spiele in der Bundesliga verlieren. Am 7. Spieltag stört das niemanden groß. Aber in einem K.-o.-Modus kann das schon mal wehtun.
Und die Angst vor der Niederlage soll sich leistungsfördernd auswirken?
Es ist gar nicht mal Angst, um die es geht. Durch einen veränderten Modus würde das Stress- und Belastungslevel spürbar erhöht. Und dadurch auch das Konzentrationsvermögen. Eine Zunahme der Belastung führt zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit. Ich bin sicher: Die Bayern würden bei einem veränderten Modus in der Bundesliga eine noch stärkere Mannschaft werden.
Was sie dann international ausspielen könnten …
Selbst wenn Bayern seine nationale Vormachtstellung ein Stück weit aufgibt, kann es international zu einer höheren Leistungsfähigkeit und damit zu einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit führen. Die Mannschaft wäre noch stärker auf Alles-oder-nichts-Spiele fokussiert. Real Madrid macht das ja seit Jahren vor.
Bald steht die WM an. Sehen Sie ähnliche Probleme auf die Nationalmannschaft zukommen?
Ehrlicherweise nicht. Bei einer WM herrscht eine ganz andere Ausgangssituation. Dort müssen die Teams auch Gruppenspiele bereits mit maximaler Anspannung angehen. Wenn man so will, sind das ja vorweggenommene K.-o.-Spiele. Es herrscht von Anfang an Endspielcharakter. Der Druck ist das gesamte Turnier über sehr hoch. Die mentale Belastung, das Stresslevel der Spieler wird automatisch höher sein. Da kann von Unterforderung keine Rede sein.