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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Effenberg zur Europameisterschaft "Es gibt nur eine Lösung für das Kimmich-Dilemma"
Heute beginnt die Europameisterschaft. Vorher spricht t-online-Kolumnist Stefan Effenberg im Interview Klartext. Wo Kimmich spielen muss, wen der Bundestrainer opfern soll und was wichtiger ist als der Titel.
t-online: Herr Effenberg, haben Trainerlegenden wie Arsène Wenger oder José Mourinho recht mit ihrer Kritik an der Nationalmannschaft? Wenger sagte: "Ich glaube, bei Deutschland ist der Glaube weg." Mourinho nannte die Auftritte in den letzten Jahren "schrecklich" und "schlecht".
Stefan Effenberg (52): Ich finde es grundsätzlich sehr gut, wenn man von einem Toptrainer knallhart die Meinung gesagt bekommt. So weiß jeder, wo er steht, auch wenn er selbst möglicherweise anderer Meinung ist. Beide haben sicher nicht ganz unrecht – und die Kritik an der Nationalmannschaft kommt nicht von ungefähr. Sie hat in den vergangenen Jahren sportlich kein gutes Bild abgegeben. Weder im In- noch im Ausland. Da ist es kein Wunder, wenn der ein oder andere an einem Weiterkommen in der Gruppe mit Frankreich und Portugal zweifelt. Auch wenn ich persönlich das etwas anders sehe.
Wie denn?
Zum einen kann diese Kritik als Motivation dienen. Es gibt Trainer wie Christoph Daum, die früher bei ihren Mannschaften Zeitungsausschnitte mit vergleichbaren Äußerungen in die Kabine gehängt haben, um die Spieler zu kitzeln und bei der Ehre zu packen. In der Regel braucht es das gar nicht, weil ich diese Aussagen als Spieler mitbekomme, im Kopf abspeichere und gespannt auf den Tag X warte, an dem ich sie widerlegen kann.
Und zum anderen?
Zum anderen bin euch deutlich positiver gestimmt als Wenger oder Mourinho. Ich glaube, dass die Voraussetzungen für die Nationalmannschaft ganz hervorragend sind, um vieles davon zu kitten, was in den vergangenen Jahren in die Brüche gegangen ist.
Warum?
Weil Bundestrainer Joachim Löw über seinen Schatten gesprungen ist und Mats Hummels sowie Thomas Müller zurückgeholt hat. Wer sich zu so einem Schritt entscheidet, muss ihn konsequent umsetzen und diese Spieler sofort mit allen Kompetenzen ausstatten. Genau das tut er. Ich bedaure, dass er nicht auch Jérôme Boateng mitgenommen hat, weil er das verdient gehabt hätte. Trotzdem gibt es mit Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Toni Kroos sowie Hummels und Müller nun eine Reihe erfahrener Anführer, die womöglich ihr letztes Turnier oder zumindest ihre letzte EM spielen – und alles für den Erfolg tun werden.
Im Testspiel gegen Lettland hat mit im Durchschnitt 28,9 Jahren die älteste deutsche Mannschaft seit 19 Jahren auf dem Platz gestanden. Ist sie nicht langsam zu alt?
Im Gegenteil. Das Alter kann der große Trumpf werden. Beim letzten Europameistertitel 1996 war die Startelf noch älter – im Gruppenspiel gegen Tschechien sogar 29,8 Jahre im Schnitt. Im Champions-League-Finale, welches wir 2001 mit dem FC Bayern gewonnen haben, waren wir 28,2 Jahre alt. Erfahrung kann helfen, gerade wenn es um Titel geht.
Geht es für Deutschland denn um den Titel?
Ich denke, dass wir uns nicht kleiner zu machen brauchen, als wir sind. Die deutsche Nationalmannschaft wird international gefürchtet, das hat sich nicht verändert. Der Titel muss das Ziel sein und das muss man auch klar kommunizieren. Unabhängig davon, dass Deutschland sicher nicht zu den absoluten Topfavoriten gehört.
Wer dann?
Für mich sind das Frankreich und Spanien. Ich ordne uns im erweiterten Favoritenkreis ein, gemeinsam mit Belgien, England – und Italien. Die Italiener haben die letzten 27 Spiele nicht verloren, 22 davon gewonnen. Sie haben vielleicht nicht mehr die schillernden Topstars der Neunziger, dafür aber eine unglaubliche Stabilität. Und die ist letztlich immer entscheidend. Die Kompaktheit wird auch für die deutsche Nationalelf darüber entscheiden, wie weit die Reise geht. Spektakel dürfen wir nicht erwarten, Stabilität schon, genauso wie Leidenschaft, Einsatz, Aufopferungsbereitschaft. Ich sehe da zwei Vorbilder.
Welche?
Die deutsche U21-Nationalmannschaft, die im Vorfeld der Europameisterschaft im Vergleich zu anderen Nationen kleingemacht und schwächer eingeschätzt wurde, sich dann aber als Einheit präsentiert und das Maximum erreicht hat. Und auch die Eishockey-Nationalmannschaft. Sie hat schon bei den Olympischen Spielen begeistert und sich nun bei der WM bis ins Halbfinale gearbeitet. Das kann auch die 1:6-Niederlage im Spiel um Platz drei nicht kaputtmachen. Für die Fußball-Nationalmannschaft gilt: Die Art und Weise der Auftritte ist wichtiger als der Titel. Wenn sie stimmt, kehrt auch die Liebe der Deutschen zur Nationalmannschaft zurück.
Ein Problem: die Hammergruppe, in der Einsatz und Leidenschaft womöglich nicht reichen.
Ja, schöner und einfacher wäre natürlich ein Auftaktspiel gegen Ungarn, um ins Turnier zu kommen. Gegen Frankreich kann alles passieren. Kommt die deutsche Mannschaft gut rein, kann sie ein Zeichen setzen. Gelingt das weniger gut, kann das Turnier schnell vorbei sein. Wenn die deutsche Mannschaft im zweiten Spiel gegen Portugal schon unter Druck steht, wieder nicht gewinnt und dann noch unsicherer wird, droht ein Schicksal wie 2018. Aber das darf sich die Nationalmannschaft nicht noch mal erlauben. Umso wichtiger ist es, dass Löw die richtigen Entscheidungen trifft.
Wie sollte er denn bei Joshua Kimmich entscheiden? Der ist eigentlich einer der wichtigsten Mittelfeldspieler, muss aber möglicherweise außen spielen. Sie kennen sein Dilemma aus eigener Erfahrung.
Das stimmt. Ich war in meiner aktiven Karriere zentraler Mittelfeldspieler – doch wir hatten in der Nationalmannschaft 1992 ein ähnliches Problem auf der rechten Seite. Bundestrainer Berti Vogts hatte keine Alternative und hat mir die Position zugetraut. Zunächst bei der EM 1992 zum Start gegen Schottland – später auch noch mal bei der WM 1994 für ein Spiel.
Gegen Schottland haben Sie beim 2:0 sogar ein Tor geschossen.
Und trotzdem war es nicht meine Position. Natürlich kann man auch auf der rechten Seite Einfluss nehmen, aber nicht in dem Maße, in dem das in der Zentrale möglich ist – und in dem man das gewohnt ist. Wer Stamm- und Führungsspieler beim FC Bayern im Mittelfeldzentrum ist so wie Kimmich aktuell, der muss diese Position auch in der Nationalmannschaft bekleiden. Eigentlich.
Eigentlich?
Es ist nicht zu leugnen, dass die rechte Abwehrseite die Schwachstelle der deutschen Nationalmannschaft ist. Joachim Löw hat wie damals Berti Vogts keine echte Alternative. Ob Lukas Klostermann, Christian Günter, Niklas Süle oder Emre Can – sie alle haben nicht wirklich das Format für eine Europameisterschaft auf dieser Position. Und deshalb ist es wahrscheinlich die beste Variante, Kimmich dort auf- und im Mittelfeld umzustellen. Allerdings nur mit seinem Einverständnis.
Löw sollte Kimmich fragen?
Ja. Es spricht für Kimmich, wenn er sich bereit erklärt, rechts hinten zu spielen und sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Es spricht nicht für die Nationalmannschaft, dass Kimmich wohl auf dieser Position spielen muss. Die Lösung kann natürlich letztlich nur so aussehen, dass Löw von Spiel zu Spiel entscheidet, auf welcher Position er Kimmich braucht. Womöglich ist es dann wie damals bei mir, dass er zum zweiten Spiel doch ins Mittelfeld rückt.
Welche erste Elf erwarten Sie abseits von Kimmich?
Gegen Frankreich wird Löw einen offensiv denkenden Spieler weniger und einen defensiv denkenden Spieler mehr aufstellen müssen. Das kann nur bedeuten, dass er einen Spieler wie Leroy Sané opfern muss – genauso wie Timo Werner. Serge Gnabry, Thomas Müller und Kai Havertz sollten entsprechend im Angriff die erste Wahl sein. Dahinter Ilkay Gündogan und Toni Kroos.
Wie bewerten Sie denn die Entwicklung von Sané?
In den ersten Monaten seiner Zeit beim FC Bayern war ich skeptisch – jetzt bin ich durchaus optimistischer. Sané hat sich weiterentwickelt und arbeitet mehr nach hinten. Überspitzt gesagt: Er wartet nicht mehr 90 Minuten auf den einen Moment, in dem er glänzen und das Tor machen kann. Aber trotzdem hat er noch einen langen Weg zu gehen. Er muss sich Franck Ribéry und Arjen Robben zum Vorbild nehmen. Sie haben zunächst auch vor allem in eine Richtung gedacht: nach vorne. Als sie gelernt haben, nach hinten zu arbeiten, wurde Bayern nahezu unschlagbar. Wenn Sané eine ähnliche Entwicklung nimmt, wird er auch eine genauso große Karriere hinlegen. Wenn er das nicht lernt, ist er noch ein, zwei Jahre Bayern-Spieler – und wieder weg vom Fenster.
Sie sind positiv gestimmt für die EM – aber was, wenn das Turnier wieder in die Hose geht?
Das kann natürlich passieren und dann zu einem wirklich radikalen Umbruch und einem kompletten Neustart führen mit dem neuen Trainer Hansi Flick. Für Neuer, Hummels, Müller oder Kroos könnte es ohnehin das letzte Turnier sein. Das nächste ist mit der WM 2022 zwar bereits in eineinhalb Jahren – aber das können auch lange eineinhalb Jahre werden. Ein Aus in der Vorrunde könnte einen Abschied beschleunigen und auch notwendig machen. Aber noch mal: Ich bin durchaus optimistisch, dass es ein erfolgreiches Turnier wird.
- Stefan Effenberg ist Botschafter des FC Bayern München und sagt dazu: „Ich repräsentiere den FC Bayern, insbesondere im Ausland. Mein Engagement hat keinen Einfluss auf meine Kolumnen bei t-online. Hier setze ich mich weiterhin kritisch und unabhängig mit dem Fußball auseinander — auch und insbesondere mit dem FC Bayern.“