Bundesliga Okocha lässt den Titan ins Leere fliegen
Von Mark Weidenfeller
"Stehen Sie in Ruhe auf. Drehen Sie den Ton des Fernsehers lauter. Kommen sie näher an den Monitor heran. Genießen Sie. Denn jetzt folgt ein Top-Highlight." Mit diesen Worten kommentierte Jörg Dahlmann in einem Nachbericht eines der wohl schönsten Tore der Bundesliga-Geschichte. Weiter ging es so: "Okocha, hier ist er. Okocha. Jay-Jay Okocha. Immer noch Jaaaay-Jaaaay Okocha. Noch ein Dreher, noch einer, und: drin!"
Aber der Reihe nach: Wir schreiben den 31. August 1993, Spitzenreiter Eintracht Frankfurt empfängt am 5. Spieltag den Karlsruher SC. Bis zur 87. Minute ist es ein stinknormales Bundesligaspiel. Maurizio Gaudino bringt die Gastgeber kurz nach der Pause in Führung, der Karlsruher Edgar Schmitt erzielt in der 65. Minute den Ausgleich, Uwe Bein sorgt nur zwölf Minuten später für die erneute Führung der Hessen. Die Eintracht bleibt Spitzenreiter, der KSC steckt im Mittelfeld. Mund abwischen, nach Hause gehen. Von wegen!
Tor des Jahres 1993
Denn dieses Spiel wird aufgrund des Auftritts eines 20-jährigen Nigerianers lange im Gedächtnis der deutschen Fußballfans und des damals noch wenig titanhaften Oliver Kahn bleiben. Okocha, der kurz nach dem Ausgleich der Karlsruher für Jan Furtok ins Spiel kommt, erzielt an diesem Abend das Tor des Monats, das später sogar zum Tor des Jahres gewählt wird.
Okochas unfassbare Aktion mit Worten zu beschreiben, ist eigentlich unmöglich. Es gibt aber einen Begriff, der es gut zusammenfasst: Kunst. Okocha malt ein Dribbling auf den Frankfurter Rasen, das das Publikum verzückt und seine Gegner ungläubig zurücklässt.
Ein Wahnsinnstanz
Augustine Okocha, der von allen nur Jay-Jay genannt wird, kommt nach einem Konter im Strafraum der Karlsruher an den Ball. Vor ihm ist nur noch der aus seinem Kasten gestürzte Kahn, KSC-Verteidiger Slaven Bilic steht auf der Torlinie. Okocha zieht an Kahn vorbei und hat die Chance, den Ball ins Tor zu schieben. Doch das ist ihm zu einfach. Der Nigerianer schlägt einen Haken und zieht in die Strafraummitte. Kahn fliegt derweil mit einem schönen Hechtsprung in Richtung Auslinie.
Nun sieht sich Okocha drei zurückgeeilten Abwehrspielern gegenüber. Doch auch die lässt er mit einer Reihe von schnellen kleinen Richtungsänderungen abwechselnd entweder ins Leere grätschen oder laufen. Die KSC-Abwehrspieler sehen aus wie Marionetten, Okocha spielt mit ihnen. Für einen Moment scheint es, als hielte das gesamte Stadion die Luft an. Noch ein Haken, noch ein Trick, dann hat Okocha genug. Nach zwei weiteren Hüftwacklern saust ein trockener Linksschuss zwischen den verdutzten Verteidigern hindurch ins rechte Eck des KSC-Tores. Keeper Kahn springt erneut vergeblich nach dem Ball. Auf dem Platz bildet sich eine Jubeltraube, einer der ersten Gratulanten ist Trainer Klaus Toppmöller.
Toppmöller kann nicht mehr
Genau dieser Toppmöller weiß nach dem Spiel nicht, ob er lachen oder weinen soll: "Schieß endlich, schieß, habe ich acht-, neunmal gebrüllt", sagt er. Gegenüber Okocha wird er deutlicher. Ihm macht er klar, dass er nie wieder unter ihm gespielt hätte, wenn der Ball nicht rein gegangen wäre. Okocha selbst gibt sich kleinlaut und verwundert mit einer seltsamen Aussage: "Ich möchte auch mal normale Tore schießen", sagt er.
Und Reporter Dahlmann? Der scheint das Tor gar nicht oft genug sehen zu können: "Liebe Zuschauer! Die Zeit für meinen Bericht ist zwar abgelaufen, aber egal. Ich zeig' ihnen dieses Tor jetzt noch hundertmal. Sollen sie mich rausschmeißen deswegen."