Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Box-Legende Klitschko gesteht: "Ich habe Boxen nicht geliebt"
Der frühere Schwergewichts-Champion spricht offen über Probleme nach dem Karriereende, seine Neuorientierung – und macht ein überraschendes Geständnis.
Die Planung des Interviews hat Monate gedauert – Klitschko reist immer wieder zu Terminen um die Welt, seine Zeit ist kostbar. Nun findet das Gespräch in einem hellen, freundlichen Konferenzraum seiner Promotion-Firma in Hamburg statt. Fünfte Etage, großzügig, aber nicht überdimensioniert. Vom sonnigen Balkon aus ist die Elbe ganz nah.
Der Raum ist geschmückt mit Andenken aus seiner Karriere. Bambi-Trophäen, eine Goldene Kamera, vergoldete Boxhandschuhe, fein säuberlich aufgereiht. An den Wänden hängen von Klitschko selbst gemalte Bilder, signiert mit einem Abdruck seiner mächtigen Rechten – und ein riesiger Glaskasten mit einem Paar Original-Basketballstiefel von NBA-Legende Shaquille OʾNeal, Größe 56.
Dann kommt der Champ in den Raum. T-Shirt, Jeans, kräftiger Händedruck. "Leider sieht man Shaqs Autogramm nicht mehr," sagt Klitschko, deutet auf die Schuhe und fügt lachend an: "Hätte er mal besser mit einem Edding unterschrieben." Er setzt sich entspannt an den Konferenztisch.
t-online.de: Herr Klitschko, Ihr Karriereende liegt ein knappes Jahr zurück. Was hat Sie am Sportler-Ruhestand überrascht?
Wladimir Klitschko (42): Ich habe ihn wahrscheinlich unterschätzt.
Was meinen Sie genau?
Ich habe gedacht: Wenn ich mit dem Sport fertig bin, werde ich mehr Freizeit haben. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich dachte auch, ich hätte mich sehr gut vorbereitet auf meine zweite Karriere. Aber auch da habe ich einiges unterschätzt (lacht).
Und zwar?
Ich sage Ihnen jetzt ganz genau, was ich unterschätzt habe: Das neue Leben. Ich habe 27 Jahre lang die Haltung gehabt, dass ich an einem Samstagabend um 23 Uhr physisch und mental zu hundert Prozent fit sein muss. Du hältst das einfach immer ein. Mit 14 Jahren habe ich angefangen, mit 41 Jahren habe ich aufgehört. Ich habe die Umstellung danach unterschätzt. Es ist nicht so leicht, sich von dieser Haltung zu verabschieden, auf einen Punkt hinzuarbeiten.
Sich auf ein bestimmtes Ziel zu fokussieren, ist ja durchaus positiv …
Während meiner aktiven Boxkarriere fühlte ich mich wie ein Pferd mit Scheuklappen. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass das Bild eines Tieres im Käfig, das dort eigentlich nicht hingehört, zum Beispiel ein Tiger oder ein Löwe, treffender ist. Das ist die Haltung, mit der du dich als Sportler vorbereitest.
Immer voll im Tunnelblick …
Der Blick ist sehr begrenzt, auch wenn du viel reist, viele Menschen triffst und viele Gespräche führst – das war im Sport nötig, um fokussiert zu bleiben. Jetzt ist es so, dass der Löwe freigelassen wurde und fast durchdreht, weil er bemerkt, dass die Welt größer ist als sein Käfig und er lernen muss, damit umzugehen. So war auch mein Gefühl. Ich dachte, ich kenne die Welt eigentlich. Jetzt ist sie noch größer geworden.
Die Neuorientierung fiel Ihnen schwer?
Ich würde eher sagen: Das Herz eines Kriegers ist nicht verloren gegangen. Das geht nicht, du kannst es nicht verlieren. Du wählst aber einen anderen Schauplatz und der hat andere Regeln – nicht leichtere oder schwerere, einfach andere.
Was vermissen Sie denn am Boxen?
Ich vermisse mein Team. Das Räderwerk, dass jeder genau wusste, was seine Aufgabe ist – auch ich – und wie er diese Aufgabe bestmöglich erledigt und seine Leistung abruft. Ich vermisse es, mich nur auf eine Sache zu konzentrieren.
Erst vor Kurzem haben Sie die Frage nach einem möglichen Comeback nicht komplett verneint: "Dinge können sich ändern."
Im Englischen heißt es: "I still got it" ("Ich habe es immer noch drauf", Anm. d. Red.). Ich trainiere jeden Tag, weil das meine Gewohnheit ist. Das ist Teil meiner Einstellung, die ich auch knapp ein Jahr nachdem ich meine aktive Zeit beendet habe, nicht abgelegt habe. Alle zwei Wochen mache ich Sparring. Ich sparre sechs Runden lang, und dann komme ich zur Ruhe. Daher sage ich: Wenn ich in den Ring zurückkomme, dann nur für einen wohltätigen Zweck!
Mike Tyson sagte mir im Interview, er erkenne sich selbst nicht wieder, wenn er sich auf Bildern oder Videos aus seiner Karriere sehen würde. Wie ist es bei Ihnen?
Man muss sich vorstellen: Es hat viel mit dem Einnehmen einer Rolle zu tun.
Wie meinen Sie das?
Ich bin dann nicht die Person, die da im Ring steht. Du machst dich wochenlang heiß, um die Person zu werden, die dann im Ring steht mit den Eigenschaften, die es braucht, um diesen speziellen Gegner zu bezwingen.
Man fokussiert sich voll auf den Kontrahenten?
Mal ist es mehr die Schnelligkeit, mal mehr die Ausdauer, die Schwachpunkte bei einem Gegner sind. Das gilt es auszuloten und sich in die Rolle und die Eigenschaften desjenigen zu begeben, der diese Schwachpunkte nutzen kann. Danach dauert es eine Weile, sich von dieser Person oder diesen Eigenschaften wieder zu distanzieren, sich klar zu machen: das bist nicht du, das war notwendig für diesen Kampf. Es ist wie bei Schauspielern.
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Wie würden Sie dann die Rolle beschreiben, die Sie gespielt haben?
Ich habe die Rolle eines Profi-Boxers eingenommen. Ich bin kein geborener Boxer.
Wie bitte?
Ich bin das einfach geworden. Ich wollte reisen. Sport war für mich ein Werkzeug. Ich habe es nicht leidenschaftlich geliebt.
Wirklich?
Ja. Mein Bruder Vitali ist ein geborener Kämpfer. Er war immer im Kampfsport aktiv, machte Karate, Kickboxen und Boxen. Er war derjenige, der dafür geschaffen wurde, von Geburt an. Ich wurde dazu gemacht.
Was hat Sie in jungen Jahren denn geprägt?
Bei mir haben zwei Bücher mein Leben verändert. Das waren Empfehlungen von meiner Mutter: Theodore Dreisers "Der Finanzier" und "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe. Ich habe diese Bücher gelesen, als ich elf oder zwölf war. Da wurde mir klar: Ich war eingesperrt wie der Löwe, über den wir vorhin sprachen.
Sie wollten ausbrechen?
Ich war in der Sowjetunion in einer Art Käfig. Reisen war unmöglich, außer, wenn du Politiker warst – oder Sportler. Für einen Politiker war ich zu jung, aber für einen Sportler perfekt. Mein Bruder war schon durch das Kickboxen viel gereist und ich habe erkannt: der Sport, das Boxen, ist mein Weg, diesen Käfig zu verlassen.
Es war damals eine Extremsituation …
Wir haben zum Beispiel zwei Farben gehabt: Schwarz und weiß, wobei, eigentlich war es eher grau, nicht weiß. Alle hatten die gleiche Kleidung an. Alle lasen dieselben Bücher. Alle hatten das Gleiche. Sich da etwas Neues zu suchen und dazuzulernen, das war mein Ding.
Was war für Sie denn "Neues"?
Ich wollte die Welt entdecken. Ich wollte Bananen essen (lacht), Palmen und Strände und Ozeane sehen. Andere Menschen. Dann wurde mir klar: "Okay, ich muss Sportler werden". Bei mir um die Ecke war ein Boxstudio. Die Jungs aus meiner Klasse sind da hingegangen.
Und Sie?
Es war am Anfang nicht so richtig mein Ding! Ich habe Boxen gelernt. Ich habe es gelernt, um zu reisen. Ich stand mit 14 Jahren vor der Wahl: Medizinschule oder Sportschule. Da dachte ich: "Okay, Medizin mache ich später" (lacht). 27 Jahre lang war ich danach im Boxsport. Ich bin froh, dass ich Sportler geworden bin. Aber ich bin kein geborener Boxer. Erst jetzt komme ich zu mir selbst, bin aber ungeheuer dankbar für den Sport. Die permanenten Herausforderungen haben mich geformt und auch abgehärtet. Das hilft mir auch jetzt nach der Zeit als aktiver Sportler.
Aber ohne Leidenschaft hätten Sie den Sport doch nicht so lange betreiben können …
Bis 2004 habe ich das Boxen wirklich nicht geliebt. Ich habe es gemacht, weil ich es immer schon gemacht habe. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt: Ich wollte Olympia-Sieger werden. Das habe ich 1996 geschafft. Dann habe ich die Profi-Lizenz bekommen. Ich war gerade 20 und dann kam das Berufsboxen um die Ecke: Plötzlich waren da Promoter, Verträge, Prämien für Unterschriften. Ich dachte: Das gibts doch gar nicht. Das hatte ich mir so nicht in meinen kühnsten Träumen vorgestellt. Ich kam gar nicht dazu, die Liebe zum Sport zu hinterfragen. Ich habe hart gearbeitet und war erfolgreich.
Und was hat sich 2004 verändert?
Ich hatte damals ein Riesen-Ego (lacht). Bis ich 2003 überraschend gegen Corrie Sanders verloren und meinen Titel verloren hatte. Dann kam mein Kampf gegen Lamon Brewster – auch diesen verlor ich auf brutale Art und Weise. Das war mein erster Kampf mit Emanuel Steward (legendärer Box-Trainer Anm. d. Red.) an meiner Seite. Die erste Niederlage mit ihm – und die letzte. Aber ich war am Boden zerstört. Ich war der Champion – und dann kamen plötzlich zwei Niederlagen innerhalb eines Jahres!
Eine für Sie ungekannte Situation …
Ich war der Loser der Klitschko Brüder. Die Zeiten waren brutal schwer. Mein eigener Bruder sagte mir: "Du musst mit dem Sport aufhören." Dann kam der nächste Kampf gegen DaVarryl Williamson im Caesars Palace in Las Vegas. Auch der Kampf lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Aber trotzdem doch ein Sieg zur Rückkehr.
Ich gewann, weil der Kampf nach fünf Runden wegen eines Kopfstoßes von Williamson gegen mich abgebrochen wurde. Ich wurde mit 40 Stichen genäht. Ich hatte eine Narbe, die sich durch das ganze Gesicht zog, die sieht man heute zum Glück fast nicht mehr (lacht). Das war der zweite Kampf mit Emanuel. Danach kam mein Bruder erneut zu mir und meinte: "Du musst aufhören. Du bist fertig. Schau Dir dein Gesicht an!"
Was denkt man, wenn der große Bruder das sagt?
Ich habe nie wirklich Zweifel zugelassen. Es war eine innere Überzeugung, dass ich weiter mache, obwohl ich nichts mehr hatte: keinen Promoter, keinen Fernsehsender, der meine Kämpfe übertragen wollte, keinen Bruder im selben Business, weil Vitali nach seinem Kampf gegen Danny Williams im Dezember 2004 vorerst aufgehört hatte. Ich war eigentlich am Ende.
Mit dem Rücken zur Wand …
Alle haben sich von mir abgewendet. Alle. Außer Bernd Bönte, mein Manager, der mir während meiner sportlichen Karriere immer zur Seite stand (seit 2000 Sport/ Box-Manager, Anm. d. Red.). Er glaubte an mich, und ich habe einfach weiter gemacht. Ich wusste, dass ich besser sein kann. Das wollte ich beweisen.
Klingt wie ein Weckruf.
Das war meine Motivation. Ich wusste: das, was da in den letzten Kämpfen passiert war, das war nicht ich.
Gehen wir ein paar Jahre weiter zu Ihrem letzten Kampf gegen Anthony Joshua 2017. Sie haben einmal gesagt, es hätte Ihnen nichts Besseres passieren können als diese Niederlage, weil Sie sich zum ersten Mal anerkannt fühlten – auch von den Fans. Haben Sie sich manchmal nicht genug gewürdigt gefühlt?
Ich habe 2003 und 2004 so viel einstecken müssen, dass ich nie das Gefühl verloren habe, dass es jeden Moment wieder einen Misserfolg geben könnte. Erfolg hat für mich keine Rolle gespielt. Aber diese Kritik damals, die hat meinen Kern geschmiedet. Er wurde zu Stahl. Allerdings …
Ja?
Als Leistungssportler verstehe ich noch immer nicht, wie ich gegen Anthony Joshua verlieren konnte. Es gab jedoch vor allem in meinem vorletzten Kampf (Niederlage gegen Tyson Fury, Anm. d. Red.) Momente, als ich in meine Ecke ging und dachte: Ich verliere – aber es ist mir egal!
Wie erklären Sie sich das?
Vielleicht wollte ich das ja unterbewusst. Die Niederlage gegen Joshua verstehe ich allerdings heute noch immer nicht – weil ich weiß, dass ich besser bin und sehr gut vorbereitet war auf diesen Kampf. Wenn ich so nachdenke, dann muss ich sagen: Irgendwie ist die Welt nicht mehr richtig (lacht).
Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?
Ich glaube, der "Superman" da oben oder wie man ihn nennen mag, gab mir in den 100 Tagen meiner Entscheidungsfindung ein Zeichen: "Du hast es irgendwie nicht mehr drauf. Auch wenn du glaubst, dass es anders ist." Ich wusste, dass es nicht lief, wie es laufen sollte. Aber trotz der Niederlage bin ich im Frieden, meine sportliche Karriere zu beenden.
War das der Moment, in dem Sie wussten, Sie würden Schluss machen?
Meine Seele und mein Kopf hätten keine Ruhe gefunden, wenn ich mich nach dem Kampf zuvor verabschiedet hätte. Ich wollte den Rückkampf, aber dann hatte mein damaliger Gegner einige Skandale, die das verhinderten. Gott sei Dank habe ich dann gegen Joshua geboxt. Das war für mich ein Segen. Denn trotz des Misserfolgs hat es den anderen Kampf wiedergutgemacht. Über den Kampf davor spricht ja heute keiner mehr (lacht). Und ich sage Ihnen was …
Bitte?
Eigentlich gebe ich ja keine Interviews mehr über sportliche Themen. Ich habe mal gesagt: Ich werde über meine "Legacy", mein "Vermächtnis" reden, wenn ich mit dem Sport fertig bin. Jetzt in diesem Interview hier sage ich: Ich schaue mir meine "Legacy" an (Klitschko zeigt auf seinem Smartphone den Wikipedia-Eintrag zu den Schwergewichtsboxern, die am längsten Champion waren – mit zusammengerechnet exakt zwölf Jahren liegt er mit Abstand auf Platz eins vor Joe Louis und Muhammad Ali). Zwölf Jahre zusammengerechnet! Ich hatte das schon vorher gehört, konnte es aber nicht glauben. Da muss ich sagen: Gut gemacht (lacht).
Und durchaus in guter Gesellschaft …
Das liegt alles in der Vergangenheit. Aber wir waren neulich in London, da hörte ich das wieder. Dann schaute ich nach – und musste davon erst mal einen Screenshot machen (lacht). Aber in meiner aktiven Karriere war mir das völlig wurscht.
Sie sagten ja gerade schon, dass Sie das Boxen nicht geliebt haben.
Bis ich Emanuel traf. Er hat mir die Liebe zum Box-Sport vermittelt, weil er mir zeigte, dass es im Boxen um mehr geht, als nur um Draufhauen. Jetzt liebe ich den Sport! Es ist nun mal die "Sweet Science". Kein anderer Sport wird so genannt. Ohne diesen Sport würde ich hier jetzt nicht mit Ihnen beim Interview sitzen, und jetzt will ich dabei helfen, das Boxen zum Guten zu verändern. Denn leider ist dieser Sport immer noch unterentwickelt.
Wo sehen Sie die größten Probleme?
Der Sport selbst muss sich verändern. Er muss transparenter werden. Die wichtigsten Faktoren werden mit Füßen getreten: Die Athleten und die Fans. Es ist schön, dass alle über Floyd Mayweather reden. Toll! Aber Floyd ist doch nicht der Einzige. Es gibt noch so viele andere. Aber wenn ich mir das so ansehe: Verletzungen, Todesfälle – die Jungs liegen in Scherben. Das bedauere ich sehr.
Die Versorgung fehlt ...
Wo sind da die Manager und Promoter? Die sind da, solange der Erfolg da ist und sie verdienen können. Aber später siehst du die nicht mehr. Es ist so ein großartiger Sport, in dem so viel finanziell umgesetzt werden kann – aber am Ende stehen die Athleten ohne Unterstützung da.
Eine Veränderung dieser alten Strukturen ist schwer. Wo kann man ansetzen?
Ich habe immer unterstützt, dass bei den Olympischen Spielen Amateure und Profiboxer antreten können. Da befürchteten viele: "Wie kann mein 18-jähriger Sohn gegen einen 30-jährigen Profi im Ring bestehen?" Ich sagte da: Oh ja, er kann! Und der Profi wird verlieren!
Eine Tatsache, die nicht jedem sofort klar ist …
Es sind unterschiedliche Sportarten, ich kenne das ja. Ich habe Amateurboxer im Sparring gehabt. Ein Berufsboxer hat gegen die nur ganz geringe Chancen. Und so kam es auch bei Olympia: Die Berufsboxer sind alle früh rausgeflogen, weil sie mit dieser Umstellung nicht klargekommen sind. Das Punktesystem, die Einstellung – das sind Welten, die dazwischenliegen. Deswegen kämpfe ich so für die Zentralisierung des Boxens. Aber noch werden die Interessen der Boxer und der Fans mit Füßen getreten.
Sie haben ja mal gesagt, dass Sie in Ihrer Karriere auch immer gegen Stereotypen angekämpft haben. Ist diese Problematik auch ein Teil davon?
Natürlich gibt es diese Vorurteile immer noch in allen Gesellschaftsteilen: Alle Politiker sind korrupt. Alle Journalisten lügen. Alle Sportler sind dumm. Aber in Georgien ist mit Kacha Kaladse ein Ex-Fußballer gerade Sportminister. In Kiew ist ein Ex-Boxer Bürgermeister. Und auch wenn ich in dem von mir ins Leben gerufenen Studiengang (Klitschko hat an der Universität St. Gallen einen Studiengang zum "Challenge Management" ins Leben gerufen, Anm. d. Red.) zum ersten Mal auftrete, merke ich, wie die Teilnehmer anfangs denken: "Was will ein Ex-Boxer mir hier erzählen?"
Dabei haben Sie noch größere Pläne: Sie sagten vor einer Weile, Ihr größtes Ziel für 2018 wäre, noch an der Harvard Business School zu sprechen. Hat es geklappt?
Jein! Ich war in Harvard, habe die Leute der Business School kennengelernt. Es war toll, dort zu sein und in die Geschichte Harvards zu schauen. Wir haben uns gut verstanden und hatten aufgrund meines akademischen Backgrounds schnell eine Wellenlänge: Ich habe zu einem pädagogischen Thema promoviert und bereits einen Studiengang zu "Challenge Management" an der Universität St. Gallen initiiert – das fanden die Leute aus Harvard spannend. Zum Teil ist dieser Traum, an der HBS zu sprechen, also in Erfüllung gegangen.
Zum Teil?
Die deutsche Fassung des Studiengangs zu meinem Lebensthema Challenge Management läuft in St. Gallen in der Schweiz, aber die englische Fassung existiert aktuell noch nicht. Ob diese eines Tages in Harvard angeboten wird, ist noch fraglich. In St. Gallen lief das so: Wir hatten eine Liste mit den zehn besten Universitäten Europas. St. Gallen war die erste, die wir angesprochen haben – es war Liebe auf den ersten Blick! Für mich war das ein Meilenstein.
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Und was ist Ihr nächster Meilenstein?
Im August erscheint die englische Fassung meines Buches "Challenge Management", in dem ich zeige, wie ich zu meiner inneren Haltung gekommen bin. Insgesamt ist das Buch dann in fünf Sprachen übersetzt worden: Auf Bulgarisch – man glaubt es kaum – auf Ukrainisch, Deutsch, Japanisch und bald eben auch auf Englisch. Es ist ein Sachbuch, das für mich als Grundlage meiner Theorie ganz wichtig ist. "Challenge Management" ist aber nur der erste Band, das heißt, da kommt noch was nach.
Sie gehen da sehr methodisch vor, ein Schritt auf den anderen aufbauend. Wie sieht die Entwicklung Ihrer Methode aus?
Wir sind im dritten Jahr des zertifizierten Studiengangs in St. Gallen. Zwei Doktoranden, die gerade an ihren Doktorarbeiten schreiben, machen aus meiner praktischen Theorie ein wissenschaftliches Gesetz. Parallel arbeiten wir daran, aus der praktischen Theorie eine in der Praxis umsetzbare Methode zu erarbeiten.
Für welche Bereiche des Berufslebens?
Menschen in Führungsverantwortung lernen, wie sie ihre Willenskraft weiterentwickeln und mit ihrem Team zum bestmöglichen Ergebnis kommen. Schon jetzt nutzen Partnerunternehmen wie die Deutsche Telekom meine Methode, um ihre Geschäftskunden für Herausforderungen wie die Digitalisierung zu begeistern.
Sie bieten auch Workshops an …
Genau. Lassen Sie mich dazu einmal kurz auf die Partnerschaften eingehen: Schon im April letzten Jahres, kurz nach dem Kampf gegen Anthony Joshua, war ich in den USA in Orlando beim "Sapphire Event" von SAP. Da entstand sogar eine inhaltliche Synergie zwischen dem berühmten "Design Thinking" von SAP und unserem "Challenge Management"-Ansatz. Dass Unternehmen wie SAP oder die Telekom mit unserem Konzept arbeiten, ist ein großes Kompliment für unseren theoretischen Ansatz – und auch für mich.
Ganz neu sind unsere sogenannten "Camps". Die sind offen für jedermann, der ein Problem hat, dieses aktiv angehen und lösen möchte und in unseren Camps Umsetzungsenergie tanken möchte.
So methodisch, wie Sie in Ihrer Karriere vorgegangen sind, soll auch Ihr Programm sein: Sie nennen es "Focus, Agility, Coordination, Endurance" ("Fokus, Beweglichkeit, Koordination, Ausdauer"), ein Teil Ihrer Philosophie "Challenge Management". Was sind denn Ihre nächsten Challenges?
"F.A.C.E. your Challenge" ist übrigens gerade der Arbeitstitel meines nächsten Buches. Man muss sich seinen Herausforderungen stellen, darf ihnen nicht den Rücken zudrehen. Ich will meine Erfahrungen und Erkenntnisse weitergeben. Es ist für mich ein unglaublicher Energieschub, wenn mir gesagt wird: "Ich habe dank Deiner Methode mein Geschäft zurück, ich habe meinen Mut zurück." Das steht für mich über jeder anderen Aufgabe im Leben. Wofür lebe ich denn? Um andere zu bekämpfen? Nein. Ich will etwas zurückgeben.
Woher kommt dieses Bedürfnis, etwas zurückgeben zu wollen?
Der Auslöser dafür war, dass Emanuel während meines Trainingscamps starb. Er war ein Guru. Er hatte es einfach drauf. Seine Tochter hatte schon angefangen, ein Buch über ihn und seine Methodik zu schreiben, doch sein Tod kam zu plötzlich. Sein Wissen ging gewissermaßen mit ihm.
Steward starb 2012 mit 68 Jahren an Darmkrebs.
Er war auf einmal nicht mehr da. Natürlich tragen wir sein Wissen und seine Erinnerung im Kopf irgendwie weiter, aber ich wünschte, ich hätte seine Fibel, seine Gedanken als Buch – und nicht nur das, was ich interpretiert habe. Deshalb möchte ich dokumentieren, was ich tue. Ganz exakt. Und wenn das dann jemandem hilft, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Und dann hat auch mein Leben seinen Zweck erfüllt.
Wladimir Klitschkos Buch "Challenge Management: Was Sie als Manager vom Spitzensportler lernen können" ist im Campus Verlag erschienen und unter der ISBN 978-3593507460 im Handel erhältlich.