Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erstes Bundesland mit Inzidenz über 500 Kann man die Impfskeptiker noch irgendwie erreichen?
Das erste Bundesland meldet eine Inzidenz von mehr als 500. Es ist das Land mit der niedrigsten Impfquote: Sachsen. Alles zu spät? Oder lässt sich noch gegensteuern? Ein Gespräch mit einem Marketingexperten.
Ein wesentlicher Zusammenhang ist in der Pandemie nicht von der Hand zu weisen: der zwischen Impfquote und Inzidenz. Gerade einmal 57,2 Prozent der Sachsen sind Stand Donnerstag vollständig geimpft. Damit hinkt der Freistaat allen anderen Bundesländern hinterher. Brandenburg, auf dem vorletzten Platz, liegt vier Prozentpunkte vor Sachsen. Bremen, ganz oben im Länderranking, mehr als 20.
Das spiegelt sich in der Inzidenz wider. In Bremen steckten sich in den vergangenen sieben Tagen weniger als 100 Menschen pro 100.000 Einwohner neu mit Corona an. In Sachsen waren es 521,9.
85 bis 90 Prozent der Intensivpatienten sind ungeimpft
Die Folgen werden immer sichtbarer. Wie schon im Winter 2020 füllen sich erneut die Krankenhäuser. Die sogenannte Vorwarnstufe ist erreicht, die Überlastungsstufe rückt näher.
In 26 von 71 Kliniken sind die Intensivbetten voll, berichtete am Donnerstag die "Sächsische Zeitung". 85 bis 90 Prozent der Corona-Patienten auf Intensivstationen sind ungeimpft.
2G erzeugt Widerstand – gibt es einen Ausweg?
Sachsen will mit 2G dagegenhalten. Zutritt zu Kneipen, Restaurants und Veranstaltungen in Innenräumen haben nur noch Geimpfte und Genesene. Doch in den besonders betroffenen Regionen hält sich der Wille zum Mitziehen in Grenzen.
Man werde die neuen 2G-Regeln "so hinnehmen", sagte ein Sprecher des Erzgebirgskreises dem MDR. Und Rolf Schmidt, Bürgermeister der Erzgebirgsstadt Annaberg-Buchholz, sagte der "Leipziger Volkszeitung": 2G erzeuge "nur noch mehr Trotz. Die Leute sagen dann: Jetzt erst recht nicht."
Aber: Gibt es vielleicht noch einen weiteren Weg, eine Ergänzung zu Druck und 2G?
Leipziger Experte: "Nicht Uschi Glas sollte die Botschaft verbreiten"
In Leipzig hat Uwe Hitschfeld sein Büro. Er berät Entscheider, wenn deren Projekte auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Das Sächsische Sozialministerium hat ihn um seine Expertise in der Impffrage gebeten. Für den Erzgebirgskreis analysierte er, wer die Impfskeptiker sind, wo sie genau wohnen – und wie man sie vielleicht doch noch erreichen könnte. Mit t-online sprach er über seine Erkenntnisse.
t-online: Herr Hitschfeld, kennen Sie persönlich Impfskeptiker?
Uwe Hitschfeld: Im weiteren Bekanntenkreis, ja. Auch Leute, die ungeimpft sind und dann an Corona erkrankt sind. Das sind sehr unterschiedliche Menschen. Einer ist Akademiker, der eine Entwicklung genommen hat, die man fast schon typisch nennen könnte. Ausgehend von einer Grunddistanz zur Corona-Politik der Bundesregierung ist der immer weiter weggedriftet.
Haben Sie noch Lust, sich mit diesem Bekannten über Corona zu streiten?
Ich stelle in meinem engeren Freundeskreis allgemein eine gewisse Müdigkeit fest, sich mit den Argumenten der Impfskeptiker auseinanderzusetzen. Das ist vielleicht falsch, weil man dicke Bretter lange bohren muss.
In Ihrer Studie für das Sächsische Sozialministerium ging es genau darum: Wie man am besten dicke Bretter bohrt, wie man die Impfskeptiker noch erreichen kann.
Wir haben untersucht, mit welchen Instrumenten, auf welchen Kanälen und mit welcher Sprache man die Skeptiker am besten anspricht und wo sie räumlich anzutreffen sind. Dafür muss man zunächst einmal die Kernzielgruppe genau kennen.
Was wissen Sie über die Skeptiker?
Es ist eine relativ große Gruppe. In Sachsen haben 21 Prozent der Menschen bei einer repräsentativen Umfrage im Sommer gesagt, dass sie sich keinesfalls oder wahrscheinlich nicht impfen lassen werden. Diese Studie der Universität Dresden hat die soziodemografischen Merkmale dieser Menschen erfasst. Sie sind demnach in den Altersgruppen unter 50 Jahren besonders stark vertreten; viele haben eine starke Neigung zur AfD; und Menschen mit Realschulabschluss und niedrigem Einkommen sind häufiger Impfskeptiker als Menschen mit höherem Bildungsabschluss und mehr Einkommen.
Zusammengenommen gehören Impfskeptiker vorrangig zwei Milieus an: Zum einen sind es Menschen aus dem prekären Milieu, die um Anschluss kämpfen müssen und oft das Gefühl haben, dass ihre Lebensleistung nicht anerkannt wird. Zum anderen sind es Traditionalisten. Also Leute, die Begriffe wie Ordnung und Sicherheit schätzen, die sich selbst als diszipliniert und pflichtbewusst betrachten und sich als beständige Menschen sehen.
Ist es nicht seltsam, dass gerade Leute, die Disziplin, Ordnung und Sicherheit wollen, gegen Corona-Maßnahmen opponieren und dem Staat mit Argwohn begegnen?
Nein, das passt schon ganz gut zusammen. Diese Menschen lehnen die Art und Weise ab, wie regiert wird. Sie glauben an Ordnung und Sicherheit, finden aber nicht, dass der Staat diese Werte in ihrem Sinne vertritt. Die Nähe zur AfD ist insofern symptomatisch.
Das muss man realisieren, um zu erkennen, dass es keine gute Idee ist, diesen Menschen zum Beispiel Werbung mit dem Bild des Ministerpräsidenten zu zeigen. Der ist nämlich Repräsentant eines Parteiensystems, das sie ablehnen.
Und wie erreicht man diese Menschen stattdessen?
Die Frage ist, ob Sie jemanden finden, der zur Lebenswelt der Menschen passt. Das kann ein Feuerwehrmann sein, ein Kneipenwirt, ein Lehrer oder eine Kindergärtnerin – möglichst aus dem Ort, dem Quartier, in dem diese Menschen tatsächlich leben. Nicht Uschi Glas sollte die Botschaft verbreiten, sondern jemand, den die Menschen wirklich kennen und dem sie vertrauen.
Wenn Politiker diesen Gedanken haben, kann das auch schnell nach hinten losgehen. Wie bei den CDU-Plakaten zur Bundestagswahl, bei denen sich eine Parteimitarbeiterin als Polizistin verkleidet hatte.
So etwas darf nicht passieren. Die Leute haben ein sehr feines Gespür dafür, ob sie ernst genommen werden. Fake fällt schnell auf. Es müssen echte Personen aus dem Ort sein, die für das Impfen Werbung machen. Und wenn Sie für Annaberg-Buchholz jemand Passendes gefunden haben, müssen Sie für Wolkenstein neu nachdenken.
Außerdem müssen Sie die Kernbotschaft auf eine Art und Weise vermitteln, die zur konkreten Lebenswelt der Zielgruppe passt: Es muss klar werden, dass die eigene Corona-Impfung auch die Menschen nebenan schützt. Und dass man so dazu beiträgt, dass alle im Quartier ihr altes Leben zurückbekommen. So kleinräumig zu agieren ist natürlich anstrengender, als bundesweit Plakate mit Promis aufzuhängen. Aber es führt zum Ziel.
Auf Karten, die Sie für das Sächsische Sozialministerium erstellt haben, sieht man einzelne blaue Punkte innerhalb von Ortschaften. Es sieht fast so aus, als hätten Sie einzelne Häuser markiert.
Markiert sind Straßenzüge oder Baublöcke, an denen wir mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit Impfskeptiker erwarten. Das sind keine Aussagen zu einzelnen Personen, keine personenbezogenen Daten.
Wie sind Sie darauf gekommen, diese Stellen zu markieren? Waren Sie vor Ort?
Nein. Grundlage ist eine Mischung aus tatsächlich erhobenen Daten und über mathematische Modelle berechnete Informationen.
Daraus werden Wahrscheinlichkeiten: Wenn Sie zum Beispiel wissen, über wie viele Autos ein durchschnittlicher Haushalt in einer Gegend verfügt, dann können Sie daraus andere Punkte ableiten.
Die Methode nennt man mikrogeographische Analyse. Wir wenden sie schon lange an. Eine unserer Spezialitäten ist es, Kommunikation für akzeptanzkritische Themen zu entwickeln. Das tun wir für die Erweiterung der U-Bahnnetze in München und Hamburg, den Ausbau der Stromnetze oder für kleinere Projekte, bei denen es etwa um die Umnutzung kommunaler Flächen geht. Jetzt haben wir die Methodik für das Thema Impfen erschlossen.
Woher haben Sie Daten über einzelne Wohnblocks?
Die kann man kaufen. Jeder kann das tun. Aktuell haben wir zum Beispiel mit einer Firma aus Düsseldorf zusammengearbeitet, die solche Daten anbietet. Diese werden von uns ausgewertet, um Schlussfolgerungen aus den gewonnenen Informationen abzuleiten.
Im Prinzip ist das übliches Marketinghandwerk. Wenn Sie von einer Versicherung kontaktiert werden, die Ihnen ein bestimmtes Produkt nahelegen möchte, dann haben die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorher genau analysiert, was bei Ihnen im Quartier besonders gut gehen müsste.
Das Sächsische Sozialministerium hat die von Ihnen gewonnenen Erkenntnisse eigener Auskunft zufolge unter anderem genutzt, um im Erzgebirgskreis gezielter Werbung zu platzieren. Haben die das Ihrer Meinung nach gut gemacht?
Grundsätzlich sind sie auf dem richtigen Weg. Sie sind auf die Zielgruppen und ihre Lebenswelten eingegangen, haben sich auch in der Wahl der Sprache an den Menschen orientiert und sich um lokale Testimonials bemüht. Vielleicht ginge das alles noch ein bisschen intensiver und kontinuierlicher. Aber vom Prinzip ist es in Ordnung.
Es scheint allerdings nicht gereicht zu haben. Statt auf sanfte Überzeugungsarbeit setzt Sachsen nun auf 2G.
Wie gesagt: Es geht bei Corona um dicke Bretter, und die muss man lange und ausdauernd bohren. Ich weiß nicht, ob es 2G vielleicht nicht gebraucht hätte, wenn man eher auf maßgeschneiderte Ansprache gesetzt hätte. Sicher ist aber: Wenn man gerade in den Pandemie-Hotspots von Anfang an eine intensive und zielgruppenscharfe Kommunikation verfolgt hätte, hätte das gute Effekte gehabt. Das ist das kleine Einmaleins des Marketings. Aber es muss ja nicht zu spät dafür sein.
- Gespräch mit Uwe Hitschfeld
- Vom Sächsischen Sozialministerium zur Verfügung gestellter Hitschfeld-Bericht
- "Sächsische Zeitung": "Intensivpatienten in Sachsen zu 90 Prozent ungeimpft"
- MDR: "Sachsen will Kontrollen der 2G-Regel streng umsetzen"
- "LVZ": "Besuch im Corona-Hotspot Erzgebirge: Jetzt erst recht nicht"
- sachsen.de: Aktuelle Zahlen zum Coronavirus
- RKI: Corona-Dashboard
- Bundesministerium für Gesundheit: Impfdashboard