Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Corona, Krieg und Karneval Wie könnt ihr uns so missverstehen?
In der Ukraine wütet ein Krieg und in Köln feiert man Karneval. Im Netz hagelt es nach dem Auftakt des Straßenkarnevals wie erwartet Kritik. Zeit, ein paar Dinge klarzustellen.
"Ignorant", "ohne Worte", "Hauptsache Karneval" – Kommentare wie diese flogen einem am Donnerstag auf Twitter hundertfach um die Ohren. Und man kann es verstehen: Trotz Corona und der schrecklichen Nachricht vom Überfall Russlands auf die Ukraine startete am Weiberfastnachtsmorgen in Köln der Straßenkarneval.
Und auch wenn ich das Unverständnis in den sozialen Netzwerken nachvollziehen kann, macht es mich nach den Eindrücken des gestrigen Tages nicht minder wütend.
Köln: Keinen hier lässt der Ukraine-Krieg kalt
Als gebürtige Kölnerin und Reporterin vor Ort habe ich Weiberfastnacht intensiv und vielerorts miterlebt. In der Altstadt, in der Innenstadt, im Zülpicher Viertel und auf der Solidaritätsdemo am Neumarkt.
Keinen der Menschen, mit denen ich an diesem Tag gesprochen habe, ließ die Nachricht vom Krieg in der Ukraine unberührt – weder die Vertreter der Stadt noch das Festkomitee, die Gastwirte oder die Menschen auf der Straße. So war es auch Henriette Reker (parteilos), die am Morgen als erste Amtshandlung Unterstützung für die Geflüchteten aus der Ukraine zusagte.
"Hauptsache Karneval" fasst die Sache zu kurz
Vielleicht muss man mit dem Karneval aufgewachsen sein, um zu wissen: Der Karneval war niemals in seiner jahrtausendealten Geschichte nur das, was man jedes Jahr in den Medien sieht: Feiern, Trinken, Exzess. Karneval war immer politisch und Karneval war immer auch Trost. Karneval ist nicht nur Brauchtum, Karneval ist ein Ventil. Und jeder begeht ihn anders.
Man ist kaum der Krippe entstiegen, da fängt es an: Man begleitet die Eltern zum Zoch, fängt Kamelle, feiert in Kita, Schulen, Vereinen. Am Weiberfastnachtsmorgen wacht man mit kribbelndem Bauch auf und kann es kaum erwarten, sein Kostüm anzuziehen. Karneval ist Erinnerung an leichtere Zeiten. Karneval ist Kindheit.
Man ist jung, man will vergessen – was erwartet ihr?
Als Jugendlicher tobt man sich aus. Alles nervt einen, die Schule, das Leben. Auf einmal wird das Leben ernster. An Karneval fährt man nach der Schule im großen Pulk in die Stadt. Fischmarkt, Zülpicher Viertel. Man ist albern verkleidet, man trinkt, man grölt, man vergisst. Karneval ist Eskapismus.
Und irgendwann ist man erwachsen, älter, manchmal weiser geworden. An Weiberfastnacht steht man auf, stellt das Radio an und hört Karnevalsmusik. Wer sich nicht freigenommen hat, dem wird freigegeben. Es ist Fastelovend. Die ganze Stadt ist auf den Straßen. Karneval gehört zum Leben dazu.
Der Kölner Karneval ist politisch. Punkt.
Was übers Jahr die Politik aufregt, wird an Rosenmontag in Pappmaché gegossen. Männern der Macht werden beim Rathaussturm von Frauen die Krawatten abgeschnitten und die Schlüssel zur Stadt geklaut. Jeder kennt die Geschichte von Anno und den Fensterrahmen. Karneval ist politisch.
Und dann gibt es die Ausnahmezustände. Nach dem Zweiten Weltkrieg feierte man in Köln zwischen Trümmerhaufen, närrisch und erschüttert zugleich, wie der damalige Leiter des Festkomitees Thomas Liessem in einem denkwürdigen Zitat berichtet.
Karneval ist unser Weg, um mit der Schwere klarzukommen. Und gerade deshalb tat es so weh, als er im vergangenen Pandemiejahr ausfallen musste. Karneval ist Hoffnung.
Der Karneval ist nicht ignorant
Wer den Karneval nicht kennt, wird die Szenen vom Alter Markt und aus dem Zülpicher Viertel nicht verstehen. Aber wenn uns die Reaktionen der Stadtleitung, des Festkomitees und der Menschen auf den Straßen wie am Neumarkt eines gezeigt haben, dann, dass der Karneval mitnichten ignorant ist.
Ein Satz, der mich gestern den ganzen Tag über begleitet hat, stammt von Jungfrau Gerdemie (alias Björn Braun), Teil des Kölner Dreigestirns. Den Tränen nah, sagte sie: "Wir schunkeln nicht an den Sorgen der Menschen vorbei. Aber wir lassen uns auch nicht die Grenzen des Frohsinns von Leuten diktieren, die die Werte der Freiheit mit Füßen treten!" Keinen Satz könnte ich heute mehr unterschreiben.
- Eigene Beobachtungen und Recherchen
- WDR: "Frohsinn zwischen Schutt und Asche"