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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mordversuch an Mutter einer Mitschülerin Bruder des Angeklagten: "Wir sind relativ gefühlskalt"
Vor dem Landgericht Köln ist ein 19-Jähriger wegen versuchten Mordes an der Mutter einer Mitschülerin angeklagt. Die Zeugenaussagen seiner engsten Angehörigen geben Einblick in das Leben eines einsamen Sonderlings.
Eine Bluttat erschütterte im April dieses Jahres Leverkusen: Die Mutter einer Schülerin war mit zahlreichen Messerstichen zu Boden gestreckt worden. Angeklagt wegen versuchten Mordes ist vor dem Kölner Landgericht ein früherer Mitschüler des Mädchens, der die Tat gestanden hat.
In dem Versuch, seine Entwicklung zu verstehen, wurden nun die Eltern und ein Bruder des 19-Jährigen als Zeugen gehört. Das Leben des Heranwachsenden war offenbar geprägt von Einsamkeit und massivem Streit innerhalb der getrennten Familie.
Bruder in Kölner Prozess: "Er wurde unverhältnismäßig bestraft"
"Ich hoffe, es geht Ihnen heute gut", begrüßte Richterin Ulrike Grave-Herkenrath den ersten Zeugen. "Ach, es geht so", war dessen leise Antwort. Seine Aussage beginnt der 80-Jährige mit dünner Stimme. Der frühere Controller ist der Vater des Angeklagten. Er schilderte, dass er seinen Sohn jahrelang kaum gesehen habe, nachdem er und dessen Mutter sich getrennt hatten.
"Das hätte ich gern anders gehabt. Wenn wir uns einmal gesehen haben, sagte er mir, dass er gern zu mir ziehen würde. Aber hatte wohl Angst, das vor der Mutter zu äußern, weil sie dann aus der Haut fuhr."
Nachdem vier Jahre lang fast kein Kontakt bestanden habe, habe der ältere Halbbruder seines Sohnes ihn angerufen. "Ich wollte gerade zum Tegernsee reisen. Er sagte: Die Mutter hat mich rausgeschmissen und ihn gleich mit. Kannst du ihn aufnehmen?" Seither habe er mit seinem Sohn zusammengelebt. Die Mutter habe den Kontakt weitgehend abgebrochen.
Der 25-jährige Halbbruder des Angeklagten berichtete: "Unsere Mutter ist sehr streitsüchtig – zu Nachbarn, Lehrern und zur Familie. Mein jüngerer Bruder hat das alles abbekommen. Er wurde unverhältnismäßig bestraft." Durch Telefonate und gemeinsame Computerspiele habe er den Kontakt zu seinem jüngeren Halbbruder gehalten, auch als beide nicht mehr im gleichen Haushalt wohnten.
Einschneidend soll für den Angeklagten gewesen sein, dass seine Schwester nicht mehr mit ihm sprach, nachdem er zum gemeinsamen Vater umzogen war. "An dem Tag, an dem er zu mir gekommen ist, hat sich die Tochter von ihm abgewendet, richtig entfremdet", so der Vater.
Die Tatsache, dass beide Hälften der Familie unmittelbar benachbart wohnten, änderte daran offenbar nichts: "Sie standen morgens an der gleichen Haltestelle wie Fremde", bestätigte auch die Mutter.
Mutter des Angeklagten: "Ich wollte ihn in Ruhe lassen"
Sie habe ihren Ex-Mann aus finanziellen Gründen geheiratet, sagte die 55-jährige Integrationsbegleiterin aus. Wegen des großen Altersunterschiedes habe man aber immer wieder über unterschiedliche Rollenvorstellungen gestritten. Es kam zur Trennung. Mit dem Umzug des Jungen zum Vater sei sie nicht einverstanden gewesen: "Ich fand, wenn er nicht bei mir bleibt, soll er in eine Einrichtung gehen, wo ihm geholfen wird."
Ihr Sohn sei hochbegabt und in der Schule ausgegrenzt worden, was psychische Probleme verursacht habe. Sie habe ihn gelegentlich zufällig in der Nachbarschaft gesehen und sich nicht um Kontakt bemüht: "Ich war der Meinung, dass er unter dem Weggehen von uns litt und wollte ihn in Ruhe lassen."
Aussagen: Rechtsextreme Haltung und Interesse am Koran
Über die Haltung des Vaters zur NS-Zeit machte das Elternpaar unterschiedliche Angaben. Ihr Ex-Mann sei stolz auf die Nazi-Vergangenheit seines Vaters, gab die Mutter an. "Was da behauptet wird, ist Unsinn", so der Rentner, der zum Ende der NS-Zeit vier Jahre alt war: "Ich habe davon erst durch meinen Sohn erfahren. Er hat im Internet etwas dazu herausgefunden." Er selbst sei kein Anhänger der NS-Ideologie.
Laut einem früheren Mitschüler soll der Angeklagte mit Hinweisen auf eine mögliche rechtsradikale Haltung in der Schule aufgefallen sein. Andererseits erinnerte sich sein Halbbruder an eine Phase, in welcher der Angeklagte Türkisch lernen wollte und sich für den Koran interessierte.
Auch habe er darüber nachgedacht, in eine verlassene Gegend Russlands auszuwandern, um dort ein einfaches, weniger technologisiertes Leben zu führen. Die hiesige Konsumhaltung und auch die geschönten Selbstdarstellungen auf Instagram hätten ihn abgestoßen.
"Er war seit Jahren unglücklich", so der junge Mann, der seinem Bruder eine Persönlichkeit mit sehr verschiedenen Facetten attestierte: "Intelligent, sehr stark, aber auch verletzlich wie ein Reh."
"Wir sind relativ gefühlskalt"
Emotionale Fragen hätten die Brüder in ihren Gesprächen meist ausgeklammert. "Ich würde behaupten, dass wir relativ gefühlskalt sind. Dann ist man nicht so anfällig für Depressionen", so der 25-Jährige.
Häufig hätten sie sich über problematische gesellschaftliche Entwicklungen ausgetauscht: "Meist waren es Themen, die nicht unbedingt Balsam für die Seele sind. Rückblickend denke ich: Man hätte sich vielleicht weniger an Dingen aufreiben können, die man nicht verbessern kann, und besser mal gesagt: Wir fahren da und da hin. Das hätte sicher gutgetan. Wir haben uns ein bisschen in ein Loch gesprochen."
Die Mitschülerin, deren Mutter Opfer der Messerstiche wurde, habe der Angeklagte erwähnt. Viel habe er nicht gesagt, so der Zeuge: "Sie schien eine Person zu sein, die zu ihm durchgedrungen ist, wo er Interesse zeigte."
Die Mutter des Mädchens, die am Verfahren als Nebenklägerin teilnimmt, tupfte bei diesen Worten einige Tränen aus ihren Augen.
Das Verfahren wird am 17. November fortgesetzt.
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