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Prozess um fast verhungertes Mädchen in Köln: Mutter bricht in Tränen aus


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Gutachterin im Prozess
"Wenn ich ein Kind so auffinden würde, würde ich 112 wählen"


Aktualisiert am 07.05.2021Lesedauer: 4 Min.
Die Angeklagte sitzt beim Prozessbeginn im Gerichtssaal (Archivbild): Die Mutter des fünfjährigen Mädchens verfolgte die Verhandlung weinend.Vergrößern des Bildes
Die Angeklagte sitzt bei Prozessbeginn im Gerichtssaal (Archivbild): Die Mutter des fünfjährigen Mädchens verfolgte die Verhandlung weinend. (Quelle: Oliver Berg/dpa)

Unverträglichkeiten, Schilddrüsenstörung, ein Hang zu ständigem Erbrechen: Keine der vorgegebenen Erklärungen bestätigte sich im rechtsmedizinischen Gutachten über ein fast verhungertes Kind. Die Mutter und deren Freund sind wegen versuchten Mordes angeklagt.

Mit einer bedrückenden Stellungnahme der Rechtsmedizinerin Professor Dr. Sibylle Banaschak endete der Vortrag der Gutachten im Fall des fast verhungerten kleinen Mädchens. Bezugnehmend auf ein Foto, das am 25. August 2020 aufgenommen worden war, sagte sie: "Wenn ich ein Kind so auffinden würde, würde ich 112 wählen und hoffen, dass es noch lebt, wenn die Rettungskräfte eintreffen."

Nicht wesentlich anders sei die Situation schon am 1. August gewesen, als die Angeklagte von ihren Kindern zwei Fotos aufnahm und diese an ihre Mutter schickte. Sie zeigen die Fünfjährige und ihren etwas jüngeren Bruder gemeinsam auf einem Rutschauto. Das Lachen des Mädchens steht in einem verstörenden Kontrast zu seinen ausgemergelten Gesichtszügen.

Zum Hintergrund: Ein schockierender Fall beschäftigt seit Mitte April das Kölner Landgericht. Eine 24-Jährige und ihr 23-jähriger Lebensgefährte sind wegen versuchten Mordes angeklagt. Hintergrund ist, dass die Tochter der 24-Jährigen im August 2020 so stark unterernährt war, dass sie in akuter Lebensgefahr schwebte. Das Mädchen, zu dem Zeitpunkt fünf Jahre alt und knapp einen Meter groß, wog nur noch 8,2 Kilogramm – so viel wie ein mehrere Monate alter Säugling.

Das spitze Kinn, noch mehr jedoch die Augen, die schon tief und dunkel zurückliegen und dadurch riesig wirken, lassen eher an eine Manga-Figur denken als an die Fotografie eines lebendigen Kindes. Irritierend auch der Arm, der auf den ersten Blick flach erscheint: "Da waren nur noch Haut und Knochen. Die Sehne spannt die Haut wie ein Zelt auf, was den Arm flach aussehen lässt", erklärte die Sachverständige.

Kinderärztin bemerkte Gewichtsstagnation nicht

Mit Unterlagen zu früheren kinderärztlichen Untersuchungen legte sie umfangreich die Entwicklung der Kleinen dar. Das 2014 geborene Kind entsprach demnach im ersten Lebensjahr mehr oder weniger dem Durchschnitt, was Wuchs und Gewichtsentwicklung betraf. Als markanten Eckpunkt hob Sibylle Banaschak hervor: "Im November 2015 wog sie 8,2 Kilogramm – so viel wie bei ihrer Einlieferung ins Krankenhaus."

Die erfolgte allerdings fast fünf Jahre später. Schon 2017 sei eine mehrmonatige Gewichtsstagnation verzeichnet, aus Banaschaks Sicht ein erstes Anzeichen, um zu sagen: "Hier stimmt etwas nicht!" Jedoch habe die behandelnde Kinderärztin damals notiert: "Ist fit."

In den Folgejahren habe sich das Gewicht des Kindes kontinuierlich nach unten entwickelt, bis es schließlich vollkommen den Normbereich verließ. "Etwas passiert da, sodass das Kind weder vom Längenwachstum noch vom Gewicht her normal gedeiht", so die Rechtsmedizinerin. Um den vierten Geburtstag herum habe es nochmals eine Untersuchung gegeben, bei welcher das Gewicht des Mädchens mit 12 Kilogramm gemessen wurde. Innerhalb von einem Jahr und acht Monaten, bis es zur Einlieferung ins Krankenhaus kam, sei dann die Gewichtskurve steil gefallen.

Kein Hinweis auf angeborene Störungen

Neu bei diesen Erkenntnissen ist, dass das kleine Mädchen im ersten Lebensjahr offenkundig keinerlei Beeinträchtigungen und Verzögerungen zeigte. Das widerspreche der Annahme von einer angeborenen Störung, so die Einschätzung der Medizinerin. Die angebliche Schilddrüsenunterfunktion des Kindes, von der die Angeklagte ihrer Mutter berichtet haben soll, bestätigte sich in den Untersuchungen nicht.

"Abgesehen davon führt eine Unterfunktion zu Übergewicht, es hätte eine Überfunktion sein müssen", stellte Banaschak richtig. Auch die sei jedoch nicht zu diagnostizieren. Die "Muskeldystrophie", mit der die Angeklagte vor anderen Zeugen den Zustand ihrer Tochter erklärt haben soll, beschreibe nur den Zustand, dass die Muskeln sich zurückgebildet haben, sei aber keine Ursache.

Lebensmittelunverträglichkeiten konnten nicht festgestellt werden: "In dem Moment, wo sie regelmäßig zu essen bekam, hat sie es vertragen und umgesetzt", so die Gutachterin. Sogar, ob das Mädchen Drogen zu sich genommen hat, wurde medizinisch überprüft. Rückstände in ihren Haaren zeigen demnach an, dass sie in einer entsprechend rauchgeschwängerten Luft gelebt haben muss, ein eigener, wie auch immer gearteter Konsum jedoch ausgeschlossen werden kann.

Keine andere Erklärung denkbar

Fast schien es, als hätte die Gutachterin lieber etwas anderes festgestellt, als sie schließlich, mit leiserer Stimme als zuvor, resümierte: "Es bleibt ja nur, dass sie zu wenig zu essen bekommen hat." Auszuschließen sei aber, dass das Kind gar keine Nahrung bekam, sonst hätte es diesen Zustand nicht über eine so lange Zeit hinweg überlebt. Bei konstanter Unterversorgung passe der Körper seine Bedürfnisse an und gehe in den Energiesparmodus – etwa durch vermehrtes Ruhebedürfnis oder, bei Kindern, indem er das Wachstum einstelle.

Das Gutachten legte offen, dass auch die zahlreichen Einschränkungen, wegen derer das Mädchen in seinem Umfeld als behindert wahrgenommen wurde, eine Folge von konstanter Unterversorgung sein könnten. Dies bezog die Medizinerin nicht nur auf die Ernährung. So legte sie dar, dass auch liebevolle Zuwendung und verlässliche Strukturen – oder eben deren Fehlen – die emotionale, kognitive, soziale und körperliche Entwicklung von Kindern beeinflussen würden.

Fehlende Bindung verursacht Teufelskreis

Wenn ein Kind keine feste Bindung zu seiner wichtigsten Bezugsperson habe, könne ein Teufelskreis in Gang gesetzt werden: "Ein Kind war vielleicht anfangs nicht schwierig, wird es aber, weil es keine Bindung hat. Daraus entstehen Anforderungen, die das Kind schwierig erscheinen lassen – und die Bindung wird noch schlechter", erläuterte die Sachverständige. Eine körperliche Folge von Vernachlässigung könne sein, nicht zu lernen, zur Toilette zu gehen. Es gebe aber auch Kinder, die trotz ausreichender Ernährung vermindert wachsen, wenn ihnen Liebe und Zuwendung fehlten.

Selbst was auf den ersten Blick positiv erscheine, könne in einer solchen Konstellation ein beunruhigendes Zeichen sein: So zum Beispiel, dass der Bruder des kleinen Mädchens weinte, wenn seine Mutter ihn in die Kita brachte. Das müsse, so Banaschak, nicht unbedingt bedeuten, dass er seine Mama nicht hergeben wolle, sondern könne auch zeigen: "Er weiß nicht, ob sie wiederkommt." An dieser Stelle zog die Angeklagte, die seit Tagen das Geschehen nur noch weinend verfolgt, für einen Moment die Maske herunter, um sich die Tränen abzuwischen.

Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung entschieden, die umfangreichen Informationen aus insgesamt drei Gutachten erst einmal sacken zu lassen, bevor die Verhandlung am 19. Mai voraussichtlich mit Fragen an die Sachverständigen weitergeht.

Verwendete Quellen
  • Besuch der Gerichtsverhandlung
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