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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erzbistum Köln Gutachten prangert Missstände in der Priesterausbildung an
Wer das lange zurückgehaltene Münchner Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln sehen möchte, hat dafür gerade einmal 90 Minuten Zeit. Dabei hat es der Bericht in sich.
Schwere Versäumnisse in der der Auswahl und der Ausbildung der Priesteramtskandidaten wirft die Münchener Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) der Leitung des Kölner Erzbistums vor. Am "Klerikalismus" der Kirche wird in dem Gutachten harsche Kritik geübt.
Die Priesterausbildung beginne in einer Phase der Abnabelung von den Eltern und den aus Kindertagen bekannten Verhältnissen. "Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass in einem von Hierarchien und Autoritäten geprägten, von (vermeintlich) schädlichen externen Einflüssen freiem Umfeld, die Ausprägung einer altersgerecht entwickelten und selbstbestimmten Persönlichkeit kein vorrangiges Ziel ist und eine Herausforderung, die leicht misslingen kann", schreiben die Juristen in ihrem Gutachten.
90 Minuten zum Lesen von 350 Seiten
Erzbischof Rainer Maria Woelki hatte den Bericht wegen angeblicher methodischer Mängel ein Jahr unter Verschluss gehalten. Jetzt kann man das Gutachten bis zum 1. April einsehen – eineinhalb Stunden Zeit bekommt man für die rund 350 Seiten gewährt, wenn man vorher einen Termin gebucht hat. 50 Termine werden pro Tag vergeben. Wenn alle Termine vergeben werden, kommen also insgesamt 400 Menschen in den Genuss der vom Erzbischof versprochenen umfassenden Transparenz.
Zehn Menschen pro Zeitfenster werden von den freundlichen Mitarbeitern des Maternushauses aus dem gediegen-großzügigen Foyer in den großen Saal des erzbischöflichen Veranstaltungszentrums gebeten, nachdem sie vorher ihre Taschen und Jacken an der Garderobe abgegeben haben. Nur ein Stift und ein Block sind erlaubt. Zwei Mitarbeiter des Maternushauses wachen über die Einhaltung der Regeln: Keine Fotos, keine Abschriften, nur Notizen.
Massive Kritik an Personalauswahl
Den "Klerikalismus" haben WSW als Ursache allen Übels ausgemacht. Wenn denn die altersgerechte Entwicklung schief gelaufen ist, steht für die Münchener fest, "dass die Autorität kirchlicher Amtsträger aus dem ihnen verliehenen Amt und eben nicht aus der Person geschöpft wird und daher von dem Maß an Achtung abhängig ist, das dem Amt entgegen gebracht wird".
Das Gutachten übt massive Kritik an der Personalauswahl im Erzbistum. In der Organisation Kirche werde die Auffassung vertreten, dass mit der Weihe "auch gleichsam alle Fähigkeiten und Kompetenzen für jedwede Tätigkeit verliehen wurden". Dass das nicht funktioniert, habe man bei den Desastern erlebt, die Bistümer bei der Verwaltung kirchlichen Vermögens erlebt hätten. Jedes mittelständische Unternehmen habe mittlerweile Spezialisten für die Ausbildung und Schulung von Führungspersonal. In der Kirche sei die unbedingte Treue zur reinen Lehre die wichtigste Qualifikation.
Aber nicht nur die Auswahl der Führungskräfte wird kritisiert. Auch die der Priesteramtskandidaten ist aus Sicht der Gutachter zumindest fragwürdig. Die MHG-Studie habe gezeigt, dass eine nennenswerte Zahl von Priestern, die unter Missbrauchsverdacht standen und stehen, selbst missbraucht wurden.
Die MHG-Studie ist eine großangelegte Studie die sich mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche allgemein befasst hat. Sie wurde 2018 veröffentlicht.
Diese "Problemstellung", so das Gutachten, müsse im Rahmen der Ausbildung frühzeitig erkannt werden. Es brauche "individuelle Lösungsstrategien, die dem Betroffenen eine Affekt- und Bedürfniskontrolle ermöglichen".
Einstellungstests für Priester vorgeschlagen
Die MHG-Studie habe dargelegt, dass die Zeit für eine fachliche und persönliche Beschäftigung mit dem Thema Sexualität und sexuelle Identitätsbildung in den Priesterseminaren äußert knapp bemessen sei. Die Gutachter schlagen für Priesteramtskandidaten psychologische Einstellungstests vor, um Probleme zu erkennen. Als Vergleich nennen sie die Piloten-Ausbildung. Diese Tests dürften die Bistumsverantwortlichen nicht mit dem Argument ablehnen, dass damit die Kandidaten unter Generalverdacht gestellt würden.
Kritik üben die Münchner am Kirchenrecht, das nur unter Strafe stelle, wenn Kleriker ihre Pflichten bei der Einhaltung des Zölibatsversprechens oder bei der Feier der Sakramente verletzten. Die physische und psychische Gesundheit der Opfer sei dem gegenüber aus Sicht der Strafzwecke des kirchlichen Strafrechts "ohne oder allenfalls nur von nachrangiger Bedeutung".
Der sogenannte "pastorale Ansatz" vertrete die Auffassung, dass man dem Täter zuallererst mit Barmherzigkeit begegnen müsse. Und ganz wichtig sei es gewesen, das Bild der "unbefleckten Kirche" aufrecht zu erhalten. "Dass nicht das Bekanntwerden der Tat, sondern diese selbst die Kirche 'befleckt', wurde dabei geflissentlich übersehen."
- Einsichtnahme in das WSW-Gutachten