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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Held des Monats" Ulrike Demmig: "Du darfst auch selbst leben"
Seit drei Jahrzehnten setzt sich Ulrike Demmig für die Angehörigen psychisch kranker Menschen ein. Dafür wird sie von der Stadt Köln geehrt.
Mit 78 Jahren hat Ulrike Demmig nicht nur eine bewegende Lebensgeschichte, sondern auch ein beeindruckendes Engagement vorzuweisen. Seit drei Jahrzehnten setzt sie sich beim Rat und Tat e.V., einer Hilfsgemeinschaft für Angehörige psychisch kranker Menschen, für die Belange von Betroffenen ein.
Ihre eigene Erfahrung als Mutter einer psychisch erkrankten Tochter prägte ihren Weg – und machte sie zu einer Kämpferin für das Wohl anderer. Ulrike Demmig kennt die Herausforderungen, denen Angehörige psychisch erkrankter Menschen gegenüberstehen, aus erster Hand. Ihre Tochter, geistig leicht eingeschränkt, entwickelte nach dem Übergang von der Schule ins Erwachsenenleben eine Schizophrenie. "Wir haben am Ende der Schulzeit entschieden, dass sie ins Leben geht – doch das ist schiefgegangen", erzählt Demmig. Die Suche nach einer geeigneten Betreuungsstelle war mühsam und belastend.
"Behinderte Kinder werden untergebracht, aber die Eltern werden nicht gefragt, wie es ihnen geht. Das ist eine ganz fatale Situation, sehr schade", sagt sie mit Bedauern. Die Wende kam, als Demmig auf der Suche nach Hilfe für ihre Tochter den Rat und Tat e.V. in Köln entdeckte. "Da wurde ich das erste Mal gefragt, wie es mir geht", erinnert sie sich. Diese Frage war für sie ein Schlüsselmoment. "In den ersten Sitzungen habe ich nur geweint, aber mir wurde ans Herz gelegt: Du musst nicht alle Energie in deine Tochter investieren, sondern du darfst auch selbst leben."
Demmig war 15 Jahre lang im Vorsitz
Dieser Ansatz prägte fortan ihr Engagement im Verein. Von 2003 bis 2018 war Demmig Vorsitzende des Vereins und kämpfte in dieser Zeit für die Anliegen der Angehörigen. "Ich habe sehr dafür plädiert, dass Leute, die beraten, selbst solche Probleme hatten und das nicht in der Theorie lernten", betont sie. Nach 15 Jahren gab sie den Vorsitz ab, weil sie das Gefühl hatte, es sei Zeit für frischen Wind und neue Ideen. Trotzdem blieb sie dem Verein weiterhin treu. Heute engagiert sie sich sechs bis acht Stunden pro Woche und leitet jeden Montag, wenn keine Ferien sind, einen Gesprächskreis im Gemeindehaus.
"Nachdem ich den Vorsitz abgegeben habe, spreche ich mit den Menschen, gebe ihnen Zeit und Raum und sage ihnen: Du hast ein eigenes Leben und darfst das auch leben", erklärt Demmig. Sie sieht sich dabei nicht nur als Beraterin, sondern als jemand, der aus eigener Erfahrung spricht. "Ich gehe ganz nah an die Menschen ran und teile meine Situation mit ihnen." Für Demmig ist es essenziell, dass psychisch erkrankte Menschen nicht als "Idioten" abgestempelt werden, sondern als Menschen mit Fähigkeiten und Wünschen. "Unsere Tochter lebt heute in einer Einrichtung und hat sogar einen Freund. Sie hat ihr eigenes Leben innerhalb der Betreuung", erzählt sie stolz.
"Viele fühlen sich als schlechte Mutter oder Vater"
Die persönliche Nähe, die sie zu den Betroffenen aufbaut, macht ihren Ansatz so besonders. "Menschen rufen an, bekommen einen Termin oder wir führen eine Telefonberatung. Ich frage sie: Warum sind Sie hier, und was erhoffen Sie sich von mir? Viele stellen sich ihre Ehe anders vor und fühlen sich als schlechte Mutter oder Vater. Ich mache ihnen klar, dass ich das, was ich sage, nicht gelernt habe, sondern selbst erlebt habe."
Dank ihres langjährigen Engagements hat Demmig unzähligen Menschen geholfen, ihren eigenen Weg im Umgang mit psychischen Erkrankungen zu finden. Ihre Botschaft ist klar: Sowohl die Betroffenen als auch ihre Angehörigen brauchen Unterstützung, um ein lebenswertes Leben führen zu können. Sie resümiert: "Wir haben beide die Kurve bekommen – sowohl unsere Tochter als auch wir."
- Reporter vor Ort