Es gab Hinweise im Fall Attendorn Kind jahrelang eingesperrt – haben die Behörden versagt?
Ein Kind war über Jahre eingesperrt. Jetzt kommen immer mehr Details ans Licht. Es steht die Frage im Raum, ob Behörden versagt haben.
Im sauerländischen Attendorn ist ein acht Jahre altes Mädchen mutmaßlich nahezu sein gesamtes Leben eingesperrt gewesen. Mutter und Großeltern sollen es im gemeinsam bewohnten Haus versteckt gehalten haben, seitdem es anderthalb war. Obwohl es Hinweise auf das Schicksal des Kindes gab, ließen sich die Behörden wohl jahrelang abwimmeln.
Der "Sauerlandkurier" zitierte aus einer Mitteilung des zuständigen Kreises Olpe, man werde nun auch "selbstverständlich die verfahrensbezogenen Vorgänge im eigenen Haus" prüfen. Im Raum steht die Frage, ob die Behörden wirklich alles in ihrer Macht Stehende getan haben – oder ob es Versäumnisse gab, die dazu beitrugen, dass dem Mädchen so lange eine normale Kindheit verweigert werden konnte.
Mädchen in Attendorn versteckt: Sorgerechtsstreit
Gegen Mutter und Großeltern wird wegen Freiheitsberaubung ermittelt. Ihre Motive liegen noch im Dunkeln, bisher schweigen sie zu den Vorwürfen. Möglicherweise könne ein Streit ums Sorgerecht mit dem getrennt lebenden Vater des Mädchens eine Rolle spielen, hieß es allerdings.
Wie die Nachrichtenagentur dpa am Montag berichtete, hatte sich die Mutter im Sommer 2015 aus Attendorn abgemeldet und behauptet, zu Verwandten in Italien zu ziehen. Offenbar habe die Mutter so vermeiden wollen, dass ihre Tochter Umgang mit ihrem Vater habe, sagte Michael Färber, Fachbereichsleiter Jugend, Gesundheit und Soziales, im Kreis Olpe.
Jugendamt stufte Aussagen der Großmutter als "glaubhaft" ein
Der Vater wandte sich ans Familiengericht, das 2016 das Sorgerecht für beide Elternteile bekräftigte. Doch das Jugendamt glaubte wohl die Italien-Geschichte der Mutter – offenbar anders als die Familienseite des Vaters. Seine Schwester sagte nun der "Bild", Familienangehörige hätten den Behörden gemeldet, dass Mutter und Kind noch in Attendorn lebten. Trotzdem hätten sich die Behörden mehrfach von den Großeltern fortschicken lassen.
Fachbereichsleiter Färber spricht von zwei anonymen Hinweisen, die eingegangen seien: einer vor zwei Jahren und einer vor einem Jahr. Das Jugendamt sei zu mehreren Hausbesuchen angerückt, berichtete der WDR. Obwohl die Großmutter stets den Zutritt zum Haus verweigert habe, sei ihre Aussage, dass Tochter und Enkelin in Italien lebten, als "glaubhaft" eingeschätzt worden. Auch Recherchen bei Krankenkassen und Nachfragen bei Schulen und Kitas hätten nie etwas ergeben.
Bundesjustizministerium und italienischen Behörde beteiligt
Letztlich habe es "keine stichhaltigen Hinweise oder konkreten Anhaltspunkte" gegeben, sagte Färber der Nachrichtenagentur dpa. Man habe daher keine rechtliche Möglichkeit gehabt, das Haus zu betreten – das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen.
Erst als jüngst ein Verwandter der mütterlichen Familienseite bei der Polizei vorstellig wurde, sei jetzt schließlich die Wahrheit ans Licht gekommen, schrieb der "Sauerlandkurier". Mithilfe von Bundesjustizministerium und italienischen Behörden habe das Jugendamt dann herausgefunden, dass Mutter und Tochter nie in Italien gelebt hatten, berichtete die dpa.
"Sie war froh, auch mal etwas anderes zu sehen"
Wie der "Sauerlandkurier" berichtete, habe das Kind nach seiner Befreiung gesagt, noch nie eine Wiese betreten und noch nie einen Wald gesehen zu haben. Es soll bei einigen alltäglichen Fähigkeiten Defizite haben. Übereinstimmenden Berichten mehrerer Medien zufolge kann es unter anderem kaum allein Treppen steigen. Die Muskeln seien schlecht entwickelt, schreibt die "Bild". Das Kind habe zudem Schwierigkeiten, Unebenheiten im Boden zu überwinden, hieß es.
- Kleines Mädchen jahrelang eingesperrt: Was nun aus dem Mädchen wird
Ansonsten weise das Kind bisher keine Spuren körperlicher Misshandlung auf. Obwohl es nie in einer Schule war, könne es auch schreiben und rechnen, berichtete der WDR. Fraglich ist aber, welche seelischen Folgen die lange Isolation hat.
Das Mädchen soll in der Zeit seiner Gefangenschaft nie mit anderen Kindern gespielt haben. Die plötzliche Konfrontation mit der Außenwelt habe bei ihm vor allem Überraschung ausgelöst, berichtete der WDR: "Sie war froh, auch mal etwas anderes zu sehen", sagte demnach Fachbereichsleiter Färber.
- wdr.de: "Mädchen in Attendorn jahrelang eingesperrt: Streit ums Sorgerecht als Motiv?"
- sauerlandkurier.de: "So reagiert der Kreis Olpe"
- sauerlandkurier.de: "Kaum Zweifel, aber viele Fragen"
- bild.de: "7 Jahre gefangen in diesem Haus" (kostenpflichtig)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP