Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona im Brennpunkt "Nach 23 Uhr gehe ich nicht mehr raus, weil mir das zu gefährlich ist"
Kultur und Gewerbe liegen lahm, Sexarbeit driftet in die Illegalität ab, die Drogenszene bleibt prekär. Wie geht es dem Frankfurter Bahnhofsviertel in der Corona-Krise? Ein Rundgang mit Kiezkenner Ulrich Mattner.
"Frankfurt Bahnhofsviertel: Fußgänger nach Streit überfahren – Polizei rätselt über Hintergründe", titelte am 3. April eine Regionalzeitung. Sechs Tage später steht Ulrich Mattner, Journalist, Fotograf und Bahnhofsviertel-Guide, an der Ecke zwischen Kaiser- und Elbestraße. Ein Bekannter grüßt ihn und zeigt auf die Straße: "Genau hier ist der überrollt worden". Mattner nickt wissend.
Ebenfalls an genau dieser Ecke stehen Frauen, in jeweils ein paar Metern Abstand. Eine hat auffällig rot geschminkte Lippen, eine andere trägt ein transparentes Oberteil. Sie stehen versetzt, eine nach der anderen, die Elbestraße und teilweise auch die Kaiserstraße entlang – beides sehr betriebsame Straßen.
Prekäre Situation für Sexarbeiterinnen
"Das hier ist der Straßenstrich", klärt Mattner auf. Er fragt die Frau im transparenten Oberteil, ob es hier gefährlich für sie sei. Sie antwortet freundlich in gebrochenem Englisch, dass es überall gefährlich für sie und ihre Kolleginnen sei. Sie arbeite in einem Hotelzimmer in der Nähe.
Die Situation für die Sexarbeiterinnen im Viertel habe sich verschlechtert, stellt Mattner fest. Denn in den Bordellen seien sie wenigstens geschützt gewesen. Auf der Straße gebe es diesen Schutz nicht. Die Bordelle in Frankfurt sind während der Corona-Krise geschlossen. Viele Frauen sehen dadurch keine andere Möglichkeit, als auf dem illegalen Straßenstrich anzuschaffen. "Seit Corona stehen hier viel mehr Frauen als zuvor", beobachtet Mattner.
Der Kiezexperte läuft die Elbestraße weiter an die nächste Ecke zur Taunusstraße. Er zeigt auf ein Bordell und sagt: "Die Betreiber dieses Hauses lassen die Frauen während Corona hier wohnen. Die wüssten sonst nicht, wohin". Seit dem Erlass des Prostituiertenschutzgesetzes am 21. Oktober 2016 ist es untersagt, dass Sexarbeiterinnen in den Räumen, in denen sie anschaffen, auch wohnen. Da sie zurzeit nicht arbeiten dürfen, können sie in den Bordellen unterkommen. Das Konzept eines Eroscenters bestehe darin, dass die Frauen sich in Zimmer einmieten – für 140 Euro pro Tag, erklärt Mattner. Zusätzlich dazu müssen sie, aufgrund der Gesetzesbestimmung, noch ihre privaten Unterkünfte anderswo finanzieren.
Ein Viertel der Gegensätze
Im Bahnhofsviertel prallen auf engstem Raum unterschiedliche Welten aufeinander. Vor Corona hetzten Banker vorbei an Obdachlosen. Hipster schlenderten an Junkies vorbei. Das Viertel war und ist multikulturell: Arabische, asiatische und afrikanische Lebensmittelgeschäfte, die Kunden aufgrund des speziellen Sortiments von weit her anziehen, koexistieren neben deutschen Traditionsgeschäften, die 100 Jahre und länger an Ort und Stelle bestehen.
So war es auch mit der Drogenszene und den nächtlichen Partybesuchern. Ein Insider aus der Szene erklärt, dass das ABA Hotel, in das sich viele Dealer eingemietet hatten, dicht gemacht habe. Deshalb gebe es zurzeit kaum Stoff auf den Straßen. Direkt nebenan, vor dem geschichtsträchtigen und gleichzeitig angesagten Cabaret-Club Pik Dame, bildeten sich zu Prä-Corona-Zeiten regelmäßig lange Schlangen aus hippem Partyvolk. Das gleiche Schauspiel auf der anderen Straßenseite: Die von einem Magazin zu "Deutschlands bester Bar 2020" gekürte Kinly Bar befand sich vor ihrem kürzlichen Umzug direkt neben einem Druckraum.
Die Zeiten der langen Partynächte im Bahnhofsviertel sind seit einem Jahr vorbei. Die Münchener Straße sei nachts wie leer gefegt, in den anderen Straßen tummelten sich zu später Stunde ausschließlich Abhängige und Sexarbeiterinnen, berichtet Anwohnerin Sinem Koyuncu: "Nach 23 Uhr gehe ich nicht mehr raus, weil mir das einfach zu gefährlich ist". Vor Corona zählte das Bahnhofsviertel, genauso wie Alt-Sachsenhausen, zu den Vergnügungsquartieren, die an Wochenenden überschwemmt wurden von Hedonisten. "Die Kultur ist momentan tot", bedauert Mattner. "Sie kommt aber ganz bestimmt wieder zurück", sagt er zuversichtlich.
Frankfurter Weg gescheitert?
Nur einen Steinwurf vom Straßenstrich entfernt versammelt sich vor einem Druckraum an der Niddastraße die Crack- und Heroinszene. In großen Menschentrauben stehen geschätzt 50 Abhängige auf dem Straßenabschnitt. Die Pillenszene treffe sich an einem anderen Ort, nämlich am Kaisersack, direkt gegenüber des Hauptbahnhofs, erklärt Mattner. "Die meisten, die hier in der Niddastraße stehen, befinden sich im Methadon-Programm", sagt er. Das Problem daran sei, dass es noch abhängiger als Heroin mache und dass letzteres nur noch in extrem hohen Dosen wirke. Die Verabreichung des Methadons sei zudem so geregelt, dass die Süchtigen keine Entzugserscheinungen bekommen, aber auch keinen Turn. "Um sich den Flash zu holen, rauchen viele Crack", weiß Mattner.
Der Frankfurter Weg sei aus seiner Sicht gescheitert. "Auf der einen Seite denkt die Stadtpolitik darüber nach, ein Theater für eine Milliarde Euro zu bauen. Auf der anderen Seite gibt es hier eine Szene, die man vielleicht mit 30 Millionen Euro wegkriegen könnte. Das wird aber nicht in Angriff genommen. Dann weißt du, wo der politische Wille liegt", bedauert Mattner.
Der Frankfurter Weg orientiert sich am Vorbild Zürich. In der schweizerischen Stadt ist Anfang der Neunzigerjahre eine Drogenpolitik eingeführt worden, die Abhängige als Patienten betrachtet. Anders als in Frankfurt wird ihnen beispielsweise Wohnraum zur Verfügung gestellt und in den Druckräumen darf gedealt werden. Heroin wird teilweise in Tablettenform verabreicht. So hat die Schweiz es geschafft, die Abhängigen von der Straße zu holen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
In Frankfurt werde das Konzept nicht konsequent und durchdacht genug umgesetzt, findet Mattner. Etwas weiter kauert eine Frau an einer Häuserwand. Breitbeinig, mit aufgestellten Füßen sitzend, berührt ihr Kopf dazwischen fast den Bordstein. Fünf Meter weiter überquert eine Frau in Burka die Straße.
"Sichere, warme Schlafplätze für alle!"
Auch am Karlsplatz, einem dreieckigen Grünstreifen zwischen Nidda- und Karlstraße, sitzen an den Bordsteinen eine Handvoll Menschen. An ein Trafohäuschen in der Mitte des Platzes lehnt ein Mann. Ihm nähert sich ein anderer. Der Mann am Häuschen läuft auf den anderen zu, zückt ein Pfefferspray und zielt drohend in seine Richtung. Im nächsten Moment grinst er, lässt den Arm samt Pfefferspray sinken und sagt: "War nur ein Scherz".
Im Eckhaus gegenüber des Karlsplatzes befindet sich das politisch linke Hausprojekt NiKa. Im Fenster hängt neben Bildern der durch das rassistische Attentat in Hanau ermordeten Menschen ein Plakat mit der Aufschrift: "Wir fordern sichere, warme Schlafplätze für alle!". Etwas weiter lagern Wohnungslose auf ausrangierten Couches am Straßenrand. Schräg gegenüber befindet sich mit dem "25Hours Hotel", der Bar Shuka, der Bar Pracht und dem Karlson Club ein weiterer Hipster-Hotspot, der zurzeit verwaist ist.
Ortswechsel: Auch vor dem Kult-Kiosk Yok Yok auf der Münchner Straße stand vor Corona regelmäßig eine Traube an jungen Menschen, die sich nach Feierabend zum Biertrinken getroffen hat. Heute erinnert die mit zahlreichen Aufklebern verzierte Fassade an die gesellige Zeit vor der Pandemie. Ein paar Schritte weiter grüßt Jürgen Dohn, Inhaber der Schuhmacherei Lenz – ein 80 Jahre alter Traditionsbetrieb. Dohn zieht an seiner Zigarette und sagt: "Seit über einem Jahr lebe ich von meinen privaten Ersparnissen, obwohl mein Geschäft offen ist. Aber die Kundschaft bleibt aus".
Noch weniger Glück hatte das seit 1902 bestehende Schreibwarengeschäft Fleischhauer. Schräg gegenüber der Schuhmacherei zeugen mit Planen behangene Schaufenster vom Leerstand des Ladens. Er habe im vergangenen Jahr seine Türen für immer geschlossen, sagt Mattner.
Letzte Station des Spaziergangs mit dem Kiezexperten ist das Changó, ein Latino Club. Geschäftsführer Ferdinand Hartmann hat in seiner leeren Diskothek ein Corona-Schnelltest-Center eingerichtet. Außerdem verkaufen die Mitarbeiter an einem Straßenstand lateinamerikanisches Essen. Auf die Frage, wie es denn so laufe, bricht er in schallendes Lachen aus und sagt in breitem Frankfurter Dialekt: "Hier läuft gar nix, außer der Nas'".
- Gespräch und Spaziergang mit Ulrich Mattner
- Eigene Beobachtungen
- Frankfurter Neue Presse: Frankfurt Bahnhofsviertel: Fußgänger nach Streit überfahren – Polizei rätselt über Hintergründe
- "Mixology Awards": "The Kinly Bar" in Frankfurt ist "Bar des Jahres 2020" - DER SPIEGEL