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Zum journalistischen Leitbild von t-online.15-Jähriger stirbt nach Fußballspiel "Die Zündschnüre sind kürzer geworden"
Der Tod eines Jugendlichen nach einem Fußballspiel in Frankfurt entsetzt nicht nur die Sportwelt. Sportsoziologe Gunter Pilz im Interview über Fußball und Gewalt.
Nach einem Jugendspiel in Frankfurt kommt es zu einer Prügelei. Ein 15-Jähriger wird lebensgefährlich verletzt, inzwischen ist der Berliner tot. Der Sportsoziologe Gunter Pilz beobachtet schon länger, dass die Hemmschwelle für Gewalt auf Sportplätzen sinkt.
t-online: Nach einem Jugendspiel in Frankfurt ist nun ein Jugendlicher tot. Wie kann es zu so einer Gewalteskalation auf dem Sportplatz kommen?
Gunter Pilz: Ein Gewaltausbruch kann viele Ursachen haben. In Frankfurt war es wohl so, dass das Spiel bereits beendet war und es dann zur Schlägerei kam. Das deutet darauf hin, dass es bereits während der Partie zu verbalen Provokationen kam. Das ist bei fast 90 Prozent der körperlichen Gewalttaten im Sport der Fall.
Das ist Gunter Pilz
Gunter A. Pilz ist ein deutscher Soziologe mit dem Schwerpunkt Sportsoziologie. Der 78-Jährige hat sich vor allem als Gewalt- und Konfliktforscher in den Bereichen Sport und Gesellschaft einen Namen gemacht. Er ist unter anderem Vorsitzender des Netzwerks "Sport & Politik für Fairness, Respekt und Menschenwürde" und war Mitglied der Fair Play- und Ethikkommission der UEFA.
Was kann so einen Ausbruch auslösen?
Da muss nur einer anfangen, das kann schon reichen. Wir stellen fest, dass es seit Corona zu einem Anstieg von Gewalt auf Sportplätzen kommt. Es scheint, als hätte sich da einiges aufgestaut. Die Zündschnüre sind kürzer geworden.
Ist diese kurze Zündschnur ein spezielles Fußballproblem?
Nein. Es ist eben so, dass bestimmte Menschen anfällig für Provokationen sind und mit Gewalt antworten. Das kann ein niedriges Bildungsniveau sein oder ein geringes Selbstbewusstsein, das man dann mit aggressivem Verhalten zu kompensieren versucht.
Das ist nichts, was dem Fußball allein zuzuschreiben ist. Auseinandersetzungen in der ganzen Gesellschaft werden heftiger. Es geht viel Respekt verloren – man muss sich nur Diskussionen in sozialen Medien anschauen. Da wird diskriminiert, beleidigt bis zum Gehtnichtmehr.
Springt diese Diskussionskultur aus den sozialen Medien also auf die Sportplätze über?
Das kann es geben. Wir sehen diese massive Verrohung von Sprache, die dann in so einer Situation zu solchen Provokationen führen, dass jemand zurückschlägt. Die Hemmschwelle zu körperlicher Gewalt sinkt. Bei diesem Spiel zwischen einer deutschen und einer französischen Mannschaft ist auch nicht ausgeschlossen, dass es zu rassistischen Provokationen kam.
Ist Rassismus ein häufiges Problem im deutschen Amateurfußball?
Spieler mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich häufig verantwortlich für Spielabbrüche. Das muss aber nicht an ihnen liegen – sie werden häufiger provoziert. Ich erinnere an dieser Stelle an Zinedine Zidane, der im WM-Finale 2006 so lange von Marco Materazzi provoziert wurde, bis er ausgerastet ist und ihm den Kopf vor die Brust gerammt hat. Zidane flog damals vom Platz – Materazzi nicht.
Wie verhält man sich als Schiedsrichter in einer solchen Situation?
In der Situation 2006 hätten eigentlich beide vom Platz gehen müssen. Ich weise immer wieder darauf hin, dass Schiedsrichter dafür sensibilisiert werden müssen, genauer hinzuhören, was zwischen den Spielern auf dem Platz passiert. Wenn ein solcher Ausbruch kommt, muss sich etwas entladen haben, das sich während des Spiels aufgebaut hat. Trotzdem bringt es auch nichts, wenn ein Schiedsrichter in so eine Rudelbildung hineinstürmt. Deeskalierend ist meistens, die Situation genau zu beobachten und im Nachgang die angemessene Strafe zu verteilen.
In welcher Rolle sehen Sie den 16-Jährigen, der zugeschlagen hat?
Ich wäre vorsichtig damit, den jungen Mann als üblen Gewalttäter zu sehen. Er ist auch Teil einer Gruppendynamik. Da ist jemand ausgerastet, der nicht die Absicht hatte, jemanden umzubringen. Inzwischen ist er wahrscheinlich selbst geschockt über das, was er da getan hat.
Ist der Frauensport weniger anfällig für Gewalttaten als der der Männer?
Man hat es in der Gewaltforschung längst ad acta gelegt, zwischen den Geschlechtern diesen Unterschied zu machen. Wenn sich Menschen in einem hochkompetitiven Umfeld befinden, wenn es einen starken Wettbewerb gibt, werden Menschen auch unfair.
Männerfußball wird gesellschaftlich schon länger sehr ernst genommen. Der Frauenfußball ist auf dem Weg dorthin, aber ist noch in einer Entwicklungsphase. Das ist selbst in den untersten Männerligen anders, oft kommt das auch vom Publikum. Man kann sagen: Wenn es mehr um das Ergebnis geht als um das Erlebnis, kommt Aggressivität ins Spiel.
Herr Pilz, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Gunter Pilz