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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mutter entsetzt und hilflos Grab von totem Kind immer wieder verwüstet
Rebekka Kunstmann pflegt das Grab ihrer Tochter mit Hingabe. Umso mehr schmerzt es sie, dass die letzte Ruhestätte ihres Sternenkindes immer wieder zerstört wird. Hilfe scheint aussichtslos.
Rebekka Kunstmann trägt eine Kette um den Hals. Ein kleiner Engel mit Stein hängt daran, in einem Farbton fast wie eine Brombeere. "Die Farbe meiner Tochter und mir", sagt die 39-Jährige. Im November vergangenen Jahres, um Almas Geburtstag herum, entdeckte Kunstmann eine Christrose in genau dieser Farbe – und pflanzte sie auf das Grab ihrer Tochter.
Wenige Monate später wurde die Christrose, inzwischen prachtvoll erblüht, gestohlen. "Als ich zum Grab kam, welches ich mehrmals wöchentlich besuche, habe ich nur noch das Loch in der Erde entdeckt", erinnert sie sich. Der Schock war groß, es folgten Wut und Hilflosigkeit. Denn der Diebstahl ist nicht das erste Vorkommnis am Grab des Sternenkindes. "Seit ihrer Beisetzung werden immer wieder Blumen gestohlen – keine Schnittblumen, sondern eingepflanzte Blumen", sagt Kunstmann traurig.
"Hier kann ich aktiv etwas für sie tun"
Seitdem das kleine Mädchen keine zwei Stunden nach seiner Geburt starb, ist der städtische Friedhof in Bochum Langendreer für die Mutter einer der wichtigsten Orte, die sie hat. "Ich kann Alma auch an anderen Orten nah sein, aber hier kann ich aktiv etwas für sie tun", sagt die Mutter. Keine Kleidung nähen, Spielzeuge aussuchen und Windeln wechseln, wie sie es sich so sehr gewünscht hat, dafür aber Samen pflanzen, Unkraut zupfen, Blumen gießen.
Dass gerade hier jemand die Ruhe ihrer Tochter stört, ist für die Bochumerin unbegreiflich. "Ich pflege das Grab mit meiner ganzen Liebe", sagt sie. Dabei überlegt sie sich schon im Frühling, was in der nächsten Saison gepflanzt werden muss und sät zum richtigen Zeitpunkt. "Ich bin im Garten groß geworden, aber so habe ich noch einmal eine ganz neue Leidenschaft entdeckt", verrät Kunstmann.
Ihre Prämisse bei der Gestaltung von Almas Grab: Hauptsache farbenfroh. "Ich bin mir sicher, Alma wäre ein sehr buntes Wesen geworden", erklärt Kunstmann. So bunt wie die Ranunkeln, die sie für sie eingepflanzt hat oder der prächtige Rosenstock. "Kurz bevor er seine Knospen geöffnet hat, wurde er herausgerissen", berichtet die Mutter.
Sie war gerade in der 22. Schwangerschaftswoche, als der Gynäkologe bei den Ultraschalluntersuchungen das Herz nicht darstellen konnte. Sie ließ zusätzliche Untersuchungen durchführen – auch, wenn eine Behinderung für die Mutter kein Abtreibungsgrund gewesen wäre.
Es blieben 45 gemeinsame Minuten
Die Diagnose: ein schwerer Herzfehler. Kurz nach der Halbzeit der Schwangerschaft, wenn Mütter beginnen, die ersten Strampler zu kaufen und gedanklich das Kinderzimmer einrichten, musste Kunstmann sich auf einen Abschied einstellen. Die nächsten zehn Wochen nutzte Kunstmann aber, um schöne Dinge zu unternehmen. "Ich habe meiner Tochter viele Orte in der Natur gezeigt", erinnert sich Kunstmann. Vielleicht ein Grund, warum sie auch heute noch eine enge Verbindung zu Alma spürt.
Als Alma im November 2018 auf die Welt kam, blieben Mutter und Tochter 45 gemeinsame Minuten. "Sie hat 94 Minuten gelebt, eine Dreiviertelstunde konnte ich sie im Arm halten", sagt Kunstmann. Als entschieden werden musste, wo Alma beigesetzt werden soll, war für die Mutter schnell klar, dass es der örtliche Friedhof sein soll. "Ich finde auch die Vorstellung eines Friedwaldes schön, aber dort darf man oft keine eigenen Blumen pflanzen", erklärt sie.
Der städtische Friedhof in ihrer Heimatstadt ist für Kunstmann außerdem schnell erreichbar. Häufig hat sie hier nach dem Tod von Alma gepicknickt, gesungen oder mit ihrer Tochter gesprochen. Kein Wunder also, dass es sich jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht für die Mutter anfühlt, wenn das Grab verwüstet wird. "Es ist das Persönlichste, was ich habe", erinnert sie. Einmal, als wieder Pflanzen gestohlen wurden, kippte der Dieb auch das Häuschen mit Almas Kerze um. "Das ganze Wachs lief über den Stein", sagt Kunstmann.
Dass Tiere schuld an den Verwüstungen sind, glaubt die 39-Jährige nicht. "Von Raben und Krähen wurde hier auch schon etwas herausgezupft, aber dann findet man ein paar Meter weiter meist Blüten und Blätter. Meine gepflanzten Blumen verschwinden spurlos", sagt sie. Für Kunstmann deshalb eindeutig: "Menschenhand steckt dahinter."
Polizei und Friedhofsamt können kaum helfen
Was die Motivation des Diebes ist, kann Kunstmann sich nur schwer erklären. "Ich kann nicht verstehen, wie ein Mensch dazu in der Lage sein kann, auf einem Friedhof Blumen zu klauen", sagt sie. In ihrem Umfeld hat sie allerdings schon öfter davon gehört. "Ich überlege inzwischen sehr gut, was ich noch pflanzen kann und bin traurig darüber, dass mich die Angst vor Diebstahl so blockiert", sagt sie.
Sie hat bereits überlegt, ein Schild aufzustellen, um Diebe abzuschrecken. "Aber, ob das jemand wirklich liest?", fragt sie. Auch an das Friedhofsamt und die örtliche Polizei hat sich die Mutter bereits gewandt. Der einhellige Tenor: Bedauern, aber wenig Handlungsmöglichkeiten. "Eine Anzeige erscheint nicht aussichtsreich", sagt Kunstmann.
"Ich bin eine Löwenmutter"
Einmal hat Kunstmann einen kleinen gehäkelten Fisch am Grab von Alma gefunden. Wer ihn ihrer Tochter dahin gelegt hat, weiß sie bis heute nicht. "Ich habe den Fisch mit nach Hause genommen, er liegt auf ihrem Gedenktisch", sagt die Mutter.
Was sie dem Dieb sagen würde, wenn sie ihn auf frischer Tat ertappen würde? "Ich würde ihn hoffentlich direkt ansprechen, anstatt in Schockstarre zu verfallen", sagt Kunstmann. Wie skrupellos das Verhalten ist, wie sehr es den ohnehin vorhandenen Schmerz verstärkt, wie wichtig ihr das bunte Gärtchen von Alma ist – all das, würde sie versuchen, zu erklären. "Denn ich bin eine Löwenmutter", sagt Kunstmann. Und das gilt über den Tod hinaus.
- Eigene Recherchen