Beratungsstelle für Prostituierte "Wer Zwangsprostitution bekämpfen möchte, muss Armut bekämpfen"
Andrea Hitzke arbeitet seit über 30 Jahren mit Prostituierten zusammen und kennt zahlreiche Schicksale. t-online erzählt die Leiterin der Dortmunder Mitternachtsmission von ihren Erfahrungen.
Andrea Hitzke ist Sozialarbeiterin und seit 2012 Leiterin der Mitternachtsmission. Bereits 1988 fing die mittlerweile 62-Jährige als Streetworkerin bei der Mission an. Somit kennt Hitzke seit über 30 Jahren die Probleme und Sorgen der Prostituierten in Dortmund und Umgebung, aber auch harte Schicksale von Frauen, die dem Menschenhandel zum Opfer fielen.
Mitternachtsmission
Die Mitternachtsmission ist sowohl eine Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter als auch eine spezialisierte Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Die Mitternachtsmission ist als Verein bei der Diakonie eingegliedert.
Im Interview mit t-online erzählt Hitzke von ihren Erfahrungen. Was sie vom nordischen Modell hält und was aus ihrer Sicht wirklich gegen Menschenhandel helfen würde. Und auch, warum gerade Dortmund ein besonderes Modell der Sexarbeit durchführt.
t-online: Am Donnerstag begann der Prozess gegen einen Mann, der eine 18-Jährige durch die sogenannte Loverboy-Methode zur Prostitution zwang. Kennen Sie dieses Problem in ihrer Beratungsstelle auch?
Andrea Hitzke: Ja. Es sind vor allen Dingen junge Mädchen, die in den meisten Fällen noch minderjährig sind. Die Täter haben ein Händchen dafür, die Mädchen zu finden, die darauf anspringen. Es sind häufig Mädchen, die Probleme mit sich selbst haben. Die Männer gaukeln ihnen die große Liebe vor und gehen eine Beziehung mit ihnen ein. Lernen häufig sogar die Familie kennen, damit diese keinen Verdacht schöpft.
Am Anfang lädt er die Betroffene noch zum Essen ein, macht ihr Geschenke und geht mit ihr aus. Es entsteht eine emotionale Abhängigkeit – auf die wird auch ganz gezielt hingearbeitet. Sobald die erreicht ist, hat er plötzlich Geldsorgen und ihm würde was Schlimmes passieren, wenn er nicht bezahle. Die Mädchen wollen dann natürlich helfen und geraten so unwissentlich in die Prostitutionsschiene. Häufig beginnt es mit Freunden des Täters und wird immer extremer.
Wie kriegen Sie die Mädchen da wieder raus?
Bei diesen Fällen müssen wir häufig einen sehr langen Atem haben. Durch die emotionale Abhängigkeit zum Täter gehen sie doch wieder häufig zurück zu ihm. Auch immer in der Hoffnung, dass er wieder so schön wird wie am Anfang. Was natürlich eine Illusion ist. Manche wissen selbst, dass sie nicht die einzige Frau des Täters sind, sagen sich aber, die anderen wären nur fürs Geld da und sie würde er wirklich lieben. Das macht den Ausstieg so schwierig und langwierig.
Wäre ein Sexkaufverbot dann nicht die Lösung, um derartige Fälle zu verhindern?
Es ist beinah schon ein Trend, dass überall wo es schlechte Arbeitsbedingungen oder Ausbeutung gibt, der Ruf nach dem nordischen Modell laut wird. Das nordische Modell ist sehr komplex, was hier in Deutschland aber immer hervorgehoben wird, ist das Sexkaufverbot, also die Bestrafung der Freier. Eine Kriminalisierung in dem Bereich ist immer schwierig, weil wir spätestens seit Corona wissen, dass trotzdem weiter darin gearbeitet wird. Nur eben unter schlechteren Bedingungen, unter denen die Gewalt gegen Prostituierte und auch Freier steigt. Denn dann geht der ganze Bereich in den dunklen Bereich, in die Kriminalität.
Was wäre denn die Alternative?
In Dortmund fahren wir seit der Änderung des Prostitutionsgesetz 2002 ein eigenes Modell. Noch bevor das Gesetz verabschiedet wurde, haben wir uns mit Vertretern der Polizei, des Ordnungsamts und anderen Behörden, sowie auch den Prostituierten und Bordellbetreibern zusammen gesetzt. Dabei ist das Dortmunder Modell entstanden, das eine vermehrte Polizeipräsenz in den Bordellen beinhaltet, die von den Betreibern auch mitgetragen wird.
Dazu gehört auch, dass die Frauen unter guten und sauberen Bedingungen arbeiten können und nicht ausgebeutet werden. Insbesondere in der Linienstraße, Dortmunds Bordellstraße, funktioniert dies gut. Die Frauen mieten dort Zimmer, arbeiten dort teilweise jahrelang, kennen und vertrauen sich dadurch auch. Durch diese Strukturen können sich die Frauen auch in Notlagen gegenseitig helfen. Das heißt nicht, dass wir in Dortmund keine Ausbeutung oder Opfer von Menschenhandel haben.
Welche Menschen betreuen Sie denn hauptsächlich bei sich in der Beratungsstelle?
Es sind meistens Frauen und Mädchen, zunehmend auch Jungen und Männer, aus westafrikanischen Ländern, die auf dem Weg nach Europa in die Prostitution gezwungen wurden. Entweder wurden sie nach Deutschland gebracht oder sind hierher geflohen, um hier Schutz zu suchen.
Dann gibt es noch albanische Frauen, die von Familienangehörigen oder auch von ihrem Partner zur Prostitution gezwungen wurden. Auch hier haben wir Fälle der Loverboy-Methode. Und dann gibt es noch Frauen, die von Rockergruppen in die Prostitution gezwungen werden. Allerdings ist es für die Frauen aus dem Ausland besonders schwierig, aus der Prostitution auszusteigen.
Was macht den Ausstieg für die Frauen so schwer?
Insbesondere die Frauen aus sicheren Herkunftsländern, wie Albanien, haben keine Bleibeperspektive in Deutschland und wenn sie aussteigen, stehen sie häufig vor dem Nichts. Ihre Familien haben sie verstoßen oder selbst in die Prostitution gezwungen und in Deutschland erhalten sie keine Leistungen und kein Asyl. Dabei haben sie keine Lebensperspektive in ihrem Heimatland.
Auch andere Frauen können zwar Asyl beantragen, doch je nach Herkunftsland droht ihnen die Abschiebung oder Rückführung in das Land, in das sie als erstes eingereist sind. Wenn sie Anzeige erstatten, erhalten sie für die Dauer der Ermittlung ein Aufenthaltsrecht. Das Strafverfahren ist für die Betroffenen eine große Hürde. Wenn sie sich gegen das Strafverfahren entscheiden, ist die Prostitution häufig der einzige Weg an Geld zu kommen.
Die Frauen befinden sich wieder in der Ausbeutung, aus der sie eigentlich fliehen wollten. Deswegen wäre es so wichtig, Betroffenen von Menschenhandel grundsätzlich ein Asylrecht zu gewähren – was auch im Koalitionsvertrag festgehalten, aber noch nicht umgesetzt ist. Ohne dieses Recht kommen sie nur schwer oder gar nicht aus der Prostitution heraus.
Gibt es denn auch Frauen, die diese Arbeit freiwillig machen?
Ja! Natürlich muss man auch hier differenzieren. Die meisten Frauen üben diesen Job wegen des Geldes aus. Manche finanzieren sich damit ihre Drogensucht. Mit dem Beruf bekommen sie die hohen Summen für die Drogen gut zusammen.
Und einige Frauen haben mir auch erzählt, sie würden lieber als Prostituierte arbeiten, als zum Beispiel alte Menschen auszurauben oder andere kriminelle Sachen zu machen, um ihre Drogensucht zu bezahlen. Dann gibt es junge Frauen, die sich durch die Prostitution einen besseren Lebensstandard leisten wollen. Oder es auch einfach mal ausprobieren wollen.
Andere, gerade aus Bulgarien, Rumänien, aber auch Polen – also generell aus osteuropäischen Ländern – kommen nach Deutschland und ernähren ihre Familien zu Hause durch die Prostitution oder bezahlen damit schwere Operationen für ihre Eltern oder die Ausbildung ihrer Kinder. Hier sprechen viele von einer Armutsprostitution.
Meinen Sie, die Frauen, die der Prostitution aus Armutsgründen nachgehen, würden eine andere Arbeit verrichten, wenn sie die Chance hätten?
Wahrscheinlich ja. Gerade zu Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine gab es die Sorge, dass viele in die Prostitution gezwungen werden oder aber von selbst dort Arbeit suchen würden. Allerdings haben wir kaum ukrainische Frauen bei uns in der Beratung sitzen. Und auch die Fälle von Ausbeutung, die es gab, sind aus unserer Sicht Einzelfälle gewesen. Das mag zu einem großen Teil daran liegen, dass die Frauen durch die sozialen Medien sehr gut vernetzt sind und die Hilfsangebote für die Geflüchteten sehr gut waren.
Sie haben schnell eine Unterkunft gefunden und Geld erhalten. Es war auch klar, dass sie in Deutschland bleiben dürfen. Das zeigt auch, wer Zwangsprostitution bekämpfen möchte, muss Armut bekämpfen. In Deutschland, aber auch den Herkunftsländern der Betroffenen. Ich weiß aber auch, dass das utopisch ist.
- Interview mit Andrea Hitzke