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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vorwürfe gegen Lieferdienst Gorillas "Menschen, die krankgeschrieben waren, wurden gefeuert"
Der Lieferdienst Gorillas hat vielen seiner Kurieren gekündigt. Angeblich weil sie an Streiks teilgenommen haben. Bei einer Demo in Berlin war zu spüren, was schief läuft, beim vermeintlichen Erfolgs-Start-up.
Der Lärm vor der Zentrale des Lebensmitteldienstes Gorillas in Berlin ist ohrenbetäubend. Trillerpfeifen, Rasseln, Trommeln und lautes Rufen erklingen an diesem Mittwoch in Mitte. Rechts des Eingangs entlockt ein Demonstrant seinem röhrenförmigen Blasinstrument einen dumpf vibrierenden Ton. Links teilen sich zwei ehemalige Fahrradkuriere einen Topf, auf den sie abwechselnd mit einem Löffel hauen. Es wurde zur "Noise Demo" gegen den Lieferdienst aufgerufen, der jüngst zahlreiche Mitarbeiter wohl wegen der Teilnahme an "wilden Streiks" gekündigt hatte.
Kurz beruhigt sich alles. Jemand verkündet, Gorillas-Chef Kağan Sümer würde sich nun den Demonstranten stellen. "Warum kommen unsere Löhne zu spät oder gar nicht?", ruft jemand auf Englisch aus der Menge. Sümer winkt ab: "Mein Team und ich arbeiten daran. Gebt uns einen Monat. Vielleicht zwei." Alle lachen. Die Ausrede ist ein zynischer Running Gag unter den Fahrradkurieren des Unternehmens.
Und der Mann, der sie vorträgt, ist nicht Sümer. Es ist einer der Demonstranten. Über seinem Gesicht trägt er eine Maske, auf die ein Foto von Sümers Gesicht geklebt wurde. Niemand hier glaubt, dass sich der Unternehmensgründer den Protesten stellen wird. Man hat keine hohe Meinung von ihm. Im Sommer noch beschwor er, "ich würde niemals jemanden feuern, weil er streikt". Ein Versprechen, das er nun gebrochen hat.
Gorillas ist ein Lieferdienst, welcher verspricht, Lebensmittel innerhalb von zehn Minuten nach der Bestellung an die Haustür zu liefern. Hierfür betreibt das Unternehmen ein Netzwerk aus Warenhäusern und Fahrradkurieren, die sich auf die jeweilige Stadt verteilen. Das Start-up wächst schnell und wurde weniger als ein Jahr nach seiner Gründung 2020 zu einem "Einhorn" – eine Bezeichnung für Start-ups mit mehr als 1 Milliarde Euro Börsenbewertung. Eine Erfolgsgeschichte.
Ärger beim Lieferdienst Gorillas: Kuriere streiken
Doch es gibt Ärger im Paradies. In einer Eskalation des Arbeitskampfes hat das Unternehmen am Dienstagnachmittag Dutzenden Beschäftigen fristlos gekündigt. Als Grund dafür nannte ein Sprecher die unangekündigten und gewerkschaftlich nicht getragenen Streiks der Belegschaft.
"Plötzlich erhielt ich diese anonymen Anrufe", erzählt Martina Jurak. Sie ist Slovenin und war bis Dienstag sieben Monate bei Gorillas angestellt. Sie spricht Englisch, wie die meisten Menschen auf der Demo. "Ich bin nicht rangegangen, aber kurz darauf verschwanden meine Schichten aus dem Dienstplan und ich wurde aus der WhatsApp-Gruppe geworfen." Sie hatte sich an den Streiks beteiligt und vermutet, dass sie gekündigt ist. "Auch Menschen, die krankgeschrieben oder im Urlaub waren, wurden gefeuert", erzählt sie.
Andere, die im Gegensatz zu ihr das Telefonat annahmen, bat man, ihre Adressen zu verifizieren. Kurz darauf erhielten sie hastig aufgesetzte Kündigungsschreiben. Es wurden "wichtige Gründe" als Rechtfertigung genannt, jedoch nicht, was diese waren. "Der Spiegel" berichtete, dass sogar einige Namen falsch geschrieben wurden.
Gorillas-Mitarbeiter gefeuert: Wegen Streikbeteiligung?
Silvan R. weiß, dass das nicht das erste Mal war. Im März hatte man bereits einmal versucht, ihn zu feuern. Er hatte sich in einer WhatsApp-Gruppe der Kuriere über die Arbeitsbedingungen beschwert und laut eigener Aussage "Vorschläge zur Besserung" gemacht. Über seinen Fall kursierte eine geleakte Slack-Nachricht von Sümer in den sozialen Medien. Darin hieß es: "Wir mussten einem unserer Fahrer kündigen… Anscheinend war er dabei, sich gewerkschaftlich zu organisieren."
Silvan, der seinen echten Namen nicht nennen möchte, wehrte sich und gewann. Er selbst hatte nicht weiter bei dem Unternehmen arbeiten wollen. Doch einer Kollegin von ihm wurde auf die gleiche Weise gedroht. Er ist EU-Bürger, doch sie ist Argentinierin. Sie war zu dem Zeitpunkt krankgeschrieben, weil sie sich bei einer Lieferung verletzt hatte. Zusammen mit dem Job hätte sie womöglich auch ihren Aufenthaltstitel verloren. Durch seinen Widerstand half er ihr.
Viele Kuriere bei Gorillas kommen aus dem Ausland
Diese Geschichte hört man wieder und wieder. Eine junge Griechin stellt sich vor die Menge und beschuldigt das Unternehmen, Migranten auszubeuten, weil diese weniger Möglichkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt hätten. "Hiermit feuere ich Kağan!", ruft sie symbolisch zum Abschluss ihrer Rede. Zahn um Zahn.
Ein großer Anteil der Gorillas-Kuriere sind keine EU-Bürger. Wie im Fall von Silvans Freundin kann eine Kündigung sie ihr Aufenthaltsrecht kosten. Umso beeindruckender ist, dass sie sich dennoch an einem "wilden" Streik beteiligt haben. Solche werden nicht von einer Gewerkschaft organisiert und sind daher nicht arbeitsrechtlich gesichert. Der Arbeitgeber kann in einem solchen Fall eine fristlose Kündigung aussprechen. So wie Gorillas es getan hat.
Arbeitsbedingungen bei Gorillas schwierig
Doch das akzeptieren die Demonstranten nicht. Einige von ihnen wurden per Telefon gefeuert, andere, wie Martina Jurak, eigentlich überhaupt nicht. Wiederum anderen wurde schriftlich gekündigt, doch am nächsten Tag rief man sie an und sprach von einem Irrtum. Sie sollten doch bitte wieder zur Arbeit kommen. Die Geschichten der Kuriere vermitteln ein chaotisches Bild.
"Die Arbeitszeiten sind unregelmäßig und manchmal sagen sie erst einen Tag vor der Schicht Bescheid", erzählt jemand. Die Branche steht international schon lange in der Kritik, unter dem Deckmantel der Flexibilität ihre Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen zu halten. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe ging so weit, das Geschäftsmodell von Gorillas als "digitale Sklaverei" zu bezeichnen. In einem "FAZ"-Interview hatte Gorillas-Chef Kağan Sümer sich zuletzt noch betont arbeiternah gegeben und Vorwürfe der Ausbeutung als "Unstimmigkeiten" abgetan. Gorillas würde ja im Gegensatz zu vielen Konkurrenten Arbeitsverträge anbieten.
Gorillas-Kuriere klagen gegen befristete Verträge
Es stimmt, dass viele Unternehmen in der digitalen "Gig-Economy" Arbeiter nur pro erledigten Auftrag bezahlen. Gorillas ist da anders. Sie bieten Arbeitsverträge an, die auf ein Jahr befristet sind. Die Probezeit ist mit sechs Monaten ungewöhnlich lang. Doch von "Unstimmigkeiten" möchte Anna Hicks nichts wissen. Sie ist in der Gewerkschaft aktiv und versucht einen Betriebsrat zu gründen. Sie weiß genau, dass ihr Vertrag deswegen niemals verlängert werden wird. Zusammen mit 16 anderen Fahrern klagt sie derzeit vor dem Berliner Arbeitsgericht gegen die befristeten Verträge. Auch sie trägt eine Sümer-Maske um den Hals.
Warum man denn weiter für Gorillas arbeiten will, wenn die Bedingungen so schlecht sind? "Viele Menschen haben keine andere Möglichkeit", sagt eine junge Frau, die ein Transparent mit "Gorillas – heuer deine Arbeiter wieder an!" hochhält. "Und die Menschen, die man hier kennenlernt. Die sind großartig." In der Menge stehen viele Leute, die nicht für Gorillas arbeiten. Sie sind aus Solidarität gekommen, um zu unterstützen, zu trommeln und zu grölen.
Streikende Gorillas-Fahrer zuversichtlich
Einige der Kuriere hätten auch andere Optionen. Jakob Pomeranzev ist Kanadier. Er studiert Geschichte in Berlin. Er erzählt von ewig langen Stunden, die man über den Gehaltsabrechnungen brüten muss. Gorillas zahlt oft zu niedrige Beträge, verspätet oder manchmal gar nicht. "Wir haben keinen Zahltag!", meint Jakob. "Das Gehalt kommt einfach irgendwann. Und dann fehlt plötzlich ein Teil." Wenn man nicht prüft, verliert man.
Doch die allgemeine Stimmung ist zuversichtlich. "In den nächsten Wochen kommt noch einiges!", verspricht Jakob lachend. Nur kurz wird es wütend als sich einige Mitarbeiter von Gorillas vier Stockwerke weiter oben neugierig über die Balustrade eines Balkons lehnen, um das Spektakel zu beobachten. In firmeninternen WhatsApp-Gruppen war ihnen von der Chefetage geraten worden, wegen der Demonstration heute nicht ins Büro zu kommen. Niemand kommt herunter, um sich mit den Protestlern auszutauschen. Man buht laut.
"Alle sollten Solidarität zeigen", meint Silvan. "Momentan machen sie es mit den Immigranten. Gorillas verschlechtert ihre Arbeitsbedingungen. Aber sobald es einer macht, machen es alle. Auch mit Deutschen." Um das zu verhindern, macht er weiter. Damit schiebt er sich seine Sümer-Maske wieder vors Gesicht und bläst darunter in sein Didgeridoo.
- Eigene Recherchen und Beobachtungen vor Ort