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Zum journalistischen Leitbild von t-online.U8-Fahrt durch die Tunnel von Berlin "Irgendeener hält wiederma die Tür auf"
U-Bahn-Führer werden immer älter. Deshalb setzt die BVG auf Quereinsteiger wie Steven Reiss. Unterwegs auf Berlins berüchtigter U8.
Steven Reiss sitzt im Führerhaus der U8. Eigentlich will er den rund 100 Meter langen Zug weiter in Richtung Norden steuern, doch das Fahrzeug nimmt keine Fahrt auf. Reiss zeigt auf einen Knopf. "Der hier", sagt der 28-Jährige in breitestem Berliner Dialekt, "sollte eigentlich leuchten. Aber irgendeener hält wiederma die Tür auf." Nach wenigen Sekunden ist die Tür dann doch zu. Reiss schiebt einen Regler nach vorne – es werde Dunkelheit.
Die U8 verbindet die Herrmannstraße in Neukölln und Wittenau in Reinickendorf miteinander, sie führt auch unter dem Alexanderplatz hindurch, ins Herz der Stadt. Reiss lebt in Reinickendorf, seine Heimat- und Lieblingslinie ist eigentlich die U6 – Alt-Tegel nach Alt-Mariendorf via Wedding, Friedrichstraße und Tempelhof. "Die verläuft zumindest teilweise an der Oberfläche."
In der U8 verbringt Reiss 36 Minuten, einfache Strecke, in relativer Dunkelheit. Es ist sein Traumjob, erzählt der gelernte Fachlagerist. "Ich hatte mich schon vor meiner ursprünglichen Ausbildung hier beworben." Vor zwei Jahren habe es dann geklappt.
"Am ersten Tag verstehst du buchstäblich nur Bahnhof"
Steven Reiss' Ausbildung dauerte länger als die sonst üblichen sechs Monate, die Pandemie kam dazwischen. Im Nachhinein sei er ganz froh über die zusätzliche Zeit. "Man glaubt gar nicht, wie viel Stoff das ist. Am ersten Tag kommst du rein und verstehst buchstäblich nur Bahnhof."
Teil des Bewerbungs- und Ausbildungsprozesses sind neben Wissens- und Reflextests auch Simulatorfahrten auf der fiktiven Linie U10, deren Haltestellen nach Ausbildern sowie ehemaligen und aktuellen BVG-Größen benannt sind. "Da ist eigentlich alles an Szenarien dabei, die man bei der Fahrt auch hat. Aber echte Routine bekommst du halt nur auf der Strecke", sagt Reiss, der inzwischen als Lehrzugfahrer Auszubildende bei ihren ersten Einsätzen begleitet.
BVG-Ausbildung: Von Computern auf Rädern und Bandwürmern
Die BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) prüfen bei ihren Anwärtern auch die kommunikativen Fähigkeiten. "Der Kontakt mit der Leitstelle ist wichtig." Es gebe Codes, die Reiss und Kollegen untereinander verstehen – "aber draußen kein Mensch". Unter anderem Störungen am Fahrzeug, die für alle Züge auf der Linie zum Hindernis werden können, werden über Funk durchgegeben.
In Wittenau angekommen, muss Reiss den Zug umdrehen – "kehren" nennt das der Zugführer. An einigen Bahnhöfen wechselt er dazu am Bahnsteig den Führerstand, in Wittenau gibt es dagegen eine "Kehranlage" – Gleise hinter dem eigentlichen Bahnhof, auf denen der Zug abgestellt und die Seite gewechselt werden kann, ohne den Bahnsteig zu blockieren. Auch nachts werden Züge hier zwischengeparkt. Steven Reiss schreitet neben dem Zug entlang. "So bleibt man doch in Bewegung."
Auch zurück in Richtung Süden geht es nun in demselben Modell, ein älteres Fahrzeug, Jahrgang 1975 – und damit fast 20 Jahre älter als Reiss. Die neueren Züge, die ohne Unterbrechung durchgängig sind, seien "Diven, Computer auf Rädern". Reiss nennt sie ironisch "Bandwürmer". Die alten Bahnen sind seine liebsten.
Auch viele seiner Kollegen sind älter als Reiss – nach einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" liegt der Altersschnitt bei der BVG bei 45 Jahren, bei vielen ist die Rente nicht mehr weit. Die BVG wirbt ebenso selbstironisch wie aktiv um neues Personal, mit Sprüchen wie "Nach der Schule direkt auf die schiefe Bahn".
U-Bahn-Fahrer: "Paar Minuten zu spät. Aber dit macht nüsch."
Doch warum eigentlich BVG – und warum genau in die U-Bahn? "Mich haben U-Bahnen schon immer fasziniert", erzählt der 28-Jährige. "Ich habe eigentlich nur Frühschichten und ich bin immer in Berlin. An jedem Abend weiß ich, dass ich pünktlich zu Hause bin." Das sei bei der Deutschen Bahn anders. "Die zahlen zwar vielleicht besser, aber dafür stehst du dann vielleicht mit der S-Bahn irgendwo in Brandenburg oder mit dem ICE bis zum nächsten Tag in München."
Ankunft Osloer Straße: Reiss, dessen Frühschicht morgens um 3.30 Uhr startete, sollte hier planmäßig um 11.27 Uhr das Ende seines Arbeitstages erreichen. Ankunft im Feierabend ist tatsächlich um 11.30 Uhr. "Wir sin' 'n paar Minuten zu spät. Aber dit macht nüsch."
- Fahrt mit Steven Reiss in der U8
- wuv.de: "So lustig wirbt die BVG um Azubis"
- sueddeutsche.de: "Die Friseurin, die jetzt U-Bahn fährt" vom 7. März 2023