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Legendäres Rungholt: Wie eine Seuche das "Atlantis der Nordsee" zu Fall brachte


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Legendäres Rungholt
Wie eine Seuche das "Atlantis der Nordsee" zu Fall brachte

Von Angelika Franz

21.11.2021Lesedauer: 4 Min.
Alte Karte des Wattenmeeres, anrollende Welle (Montage: t-online): Die legendäre Stadt Rungholt wurde vom Meer verschlungen.Vergrößern des Bildes
Alte Karte des Wattenmeeres, anrollende Welle (Montage: t-online): Die legendäre Stadt Rungholt wurde vom Meer verschlungen. (Quelle: imagebroker/dpa)
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Reich und verdorben soll das legendäre Rungholt gewesen sein. Dann kam ein gewaltiger Sturm, der die Stadt zerstörte. War es ein göttliches Strafgericht? Die wahren Gründe sind erschreckend aktuell.

"Am Tage Marcelli Pontificis hat sich die Westsee durch Sturmwinde erhoben und das Wasser vier Ellen über die höchsten Deiche geführet, Städte und Dörfer umgekehret und den Flecken Rungholt neben sieben Kirchspielen in der Edomsharde verwüstet." So erzählt es Anton Heimreich 1666 in seiner "Nordfriesischen Chronik".

Was er beschreibt, lag zu dem Zeitpunkt bereits 300 Jahre in der Vergangenheit. Doch die Marcellusflut – benannt nach dem heiliggesprochenen Papst Marcellus I., an dessen Namenstag, dem 16. Januar 1362, sie über Nordfriesland hereinbrach – hatte sich so tief in das Gedächtnis der Küstenbewohner gefressen, dass sie von dem Ereignis immer noch schaudernd als der "Groten Manndränke" sprachen, dem Großen Ertrinken.

Leichen in der Nordsee

Drei Tage lang, vom 15. bis zum 17. Januar, schob der anhaltende Orkan damals die Nordsee immer vehementer die Küste hinauf. Unter dem Druck der Wassermassen barsten die Deiche wie Sandburgen. Als der Sturm schließlich abflaute, fehlten der nordfriesischen Küste rund 100.000 Hektar Land. Zehntausende Menschen hatte die Flut mit sich gerissen, manche trieben zur Unkenntlichkeit aufgedunsen noch Tage später wieder an die Oberfläche.

Heimreich liefert auch eine Erklärung für die Apokalypse, die über den Flecken Rungholt hereingebrochen war. Dessen Bewohner, schreibt der Chronist, seien gottlos und lasterhaft gewesen. Nach einem Gezeche hätten sie gar ein Schwein betrunken gemacht, es ins Bett gesteckt und den Pastor gerufen: Der Diener Gottes möge dem armen Tier die Sterbesakramente gewähren.

Als der Geistliche sich weigerte, entrissen sie ihm die Büchse mit den Oblaten und gossen Bier hinein. Nur mit knapper Not konnte der gute Mann den Trunkenbolden entfliehen. In der folgenden Nacht aber hatte er einen Traum, in dem Gott ihn warnte, er möge sich so schnell wie möglich auf das Festland in Sicherheit bringen. Kaum hatte der Pastor Rungholt verlassen, erhob sich der Orkan – und drei Tage später spülten die Wellen bereits um die Kirchturmspitze der Stadt.

Aufgrund der ausgeschmückten Legende wurde Rungholt selber lange Zeit für einen Mythos gehalten, für eine Warnung Heimreichs an seine Zeitgenossen. Nur wenige Jahre vor Veröffentlichung seiner "Nordfriesischen Chronik" hatte es eine weitere schwere Sturmflut gegeben, die Burchardiflut vom 11. auf den 12. Oktober 1634. Die Nerven lagen blank an der Nordseeküste, die Angst vor einem weiteren Gottesgericht war groß. Als eine Art "Atlantis der Nordsee" wurde Rungholt später verklärt, ungeheuer reich, eben sehr verdorben und wie das "originale" Atlantis nicht auffindbar.

Ja, wo lag es denn nun?

Doch dann fand der Bauer und Heimatforscher Andreas Busch aus Nordstrand im Jahr 1921 eine Gruppe von Wurten, künstlich aufgeschütteten Wohnhügeln, sowie Brunnen und die Überreste einer Schleuse im Watt vor der Nordwestecke der Hallig Südfall. Konnten das die Ruinen von Rungholt sein?

In den Neunzigerjahren verkündete dann der Ethnologe Hans Peter Duerr, er habe Rungholt gefunden – allerdings weiter nördlich im Watt. Dort lägen, so Duerr, nicht nur Häuserreste, sondern auch exotische Keramik aus Flandern, Südfrankreich und Spanien sowie Gefäße mit indischen und westafrikanischen Gewürzen. Rungholt sei kein Fischerdorf, sondern eine bedeutende mittelalterliche Handelsstadt gewesen, schloss er aus den Artefakten.

Unter den Archäologen vom Landesamt für Vor- und Frühgeschichte in Schleswig machte er sich mit seinen fantastischen Interpretationen allerdings keine Freunde. Duerr habe nicht systematisch und sorgfältig ausgegraben, sondern dem Watt wahllos Funde entrissen und damit jeglichen Kontext zerstört. Die Keramikfunde wurden jedenfalls niemals wissenschaftlich veröffentlicht; ob sie tatsächlich aus weit entfernten Regionen ins Watt gelangten, sei dahingestellt.

Außerdem, so die Archäologen, seien die von Duerr beschriebenen Gebäudespuren längst bekannt – und jedenfalls nicht die Reste von Rungholt. Endgültig geklärt werden konnte die Frage nach der Lage Rungholts bis heute nicht. Aus den Jahren der Burchardiflut, in denen auch Heimreich seine Chronik schrieb, gibt es zwei Karten – eine verzeichnet Rungholt dort, wo Busch die Wurten fand, eine andere an jener Stelle weiter nördlich, wo Duerr die Stadt vermutet.

Raubbau rächte sich

Die meisten Küsten-Archäologen tendieren zum ersten Fundort. Vermutlich, so die allgemeine Annahme, hat mittlerweile die Hallig Südfall die meisten Reste überlagert, denn sie zieht mit der Zeit immer weiter nach Osten. Bekannt ist dagegen, was den Untergang Rungholts herbeiführte – und es war keine Strafe Gottes, sondern ein Zusammenspiel von Faktoren, die beunruhigend aktuell anmuten: Raubbau an der Natur, einer verheerenden Seuche und der Klimakrise.

In den eingedeichten Marschflächen bauten die Küstenbewohner im Mittelalter Salztorf ab, unter dem Wattboden liegendes, mit Salzwasser vollgesogenes Moor. Dadurch senkte sich der Boden entlang der Küste, teils gefährlich weit unter den Stand des mittleren Tidehochwassers. Einer Flut hatte der ausgehöhlte Marschboden hinter den Deichen bald nichts mehr entgegenzusetzen.

Hinzu kam die Pest, die zwischen 1347 und 1353 in Europa rund ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte. Der so dezimierten Bevölkerung fehlten die Ressourcen, um die Deiche instand halten zu können. Wer noch Kraft hatte, arbeitete auf den Feldern. Nur zwanzig Jahre vor der Marcellusflut hatte das Magdalenen-Hochwasser schwere Schäden an den Hochwasserschutzanlagen verursacht – die vermutlich noch nicht wieder vollständig repariert waren.

Dabei brauchten die Menschen die nötiger denn je. Seit Beginn des zweiten Jahrtausends hatte sich das Klima langsam, aber stetig erwärmt. Die Gletscher schmolzen, der Meeresspiegel stieg an – und mit ihm der Druck auf die Deiche. Der ausgehöhlte Boden, der vernachlässigte Hochwasserschutz und der hohe Wasserstand wurden am Ende zu einer tödlichen Gemengelage.

Wer an einem sonnigen Tag am Strand der Hallig Südstrand spazieren geht, sollte jedenfalls für einen Moment innehalten und still in den Wind lauschen. Denn noch heute könne man dort, endet der Chronist Heimreich seine Legende, bei schönem Wetter und ruhiger See im Watt die Glocken von Rungholt hören.

Verwendete Quellen
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