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Russland und Rap: Warum Musik Wladimir Putins Macht bedroht


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Fall des Eisernen Vorhangs
Der wahre Grund für den Untergang der Sowjetunion

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 17.05.2021Lesedauer: 4 Min.
Michail Gorbatschow, Wladimir Putin und das Moscow Music Peace Festival 1989 (Collage von t-online): Rock erwies sich für die Sowjetunion als verhängnisvoll, sagt Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Michail Gorbatschow, Wladimir Putin und das Moscow Music Peace Festival 1989 (Collage von t-online): Rock erwies sich für die Sowjetunion als verhängnisvoll, sagt Wladimir Kaminer. (Quelle: Rainer Unkel/ITAR-TASS/ap)

1991 ging die Sowjetunion unter. Nicht, weil es zu wenig zu essen gab, sondern weil der Song einer deutschen Band den Geist der Revolution verbreitete. Wenn etwas die Herrschaft von Wladimir Putin bedroht, dann wieder die Musik, sagt Wladimir Kaminer.

2021 jährt sich die Auflösung meiner Heimat, der Sowjetunion, zum 30. Mal. Noch im Frühjahr 1991 hatte unser damaliger Generalsekretär Michail Gorbatschow ein Referendum durchgeführt, ob die Sowjetunion weiterbestehen oder sich auflösen sollte. 76 Prozent der Wahlberechtigten hatten sich für den Erhalt ausgesprochen.

Weil aber unsere Führung ganz genau wusste, dass die sowjetischen Menschen immer das eine sagen und das andere meinen, beschloss sie, die Sowjetunion aufzulösen. An ihrer Stelle sollte eine neue Union der unabhängigen Republiken entstehen: Doch kaum löste sich der Bund, rannten die Republiken auseinander. Die regionalen Eliten hatten das Blut der Macht geleckt.

Weltraumausflüge statt Butter

Das erste sozialistische Land der Welt, ein revolutionäres Projekt, ging nach rund 70 Jahren zu Ende. Was aber war der wahre Grund des Untergangs, wo kam der Wurm des Zweifels her?

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon".

Bis heute streiten sich die Geister, was dem größten Land der Welt den Todesstoß versetzt hatte. War es der Kalte Krieg oder die Konkurrenz im Weltall, also die Notwendigkeit, immer neue Raketen zu bauen auf Kosten der verarmten Bevölkerung? In der Tat kümmerte sich die sowjetische Führung viel mehr um die Weltraumforschung als um den Wohlstand der Bürger.

Doch irgendwie hatten die sowjetischen Menschen dann doch Verständnis dafür, sie freuten sich über jeden Raketenstart im Fernsehen. Ich bin 1967 in Moskau auf die Welt gekommen. Allein in diesem Jahr sind die sowjetischen Kosmonauten 73 Mal ins All geflogen. Gleichzeitig gab es Engpässe mit Waren des täglichen Bedarfs, es gab keine Butter und es wurden zu wenig Hosen genäht. Einige naive Romantiker meinten, es wäre doch für alle von Vorteil, wenn wir ein paar Raketen weniger, dafür ein Paar Hosen mehr produziert hätten.

Die vernünftigen Pragmatiker widersprachen. Unser sozialistisches System war nicht für die Lösung der alltäglichen Probleme gedacht. Es konnte wunderbar Projekte entwickeln, die eine einmalige Kraftanstrengung erfordern, wie eine große Rakete ins All fliegen zu lassen.

Und dann auch noch die Sache mit den Hosen

Aber dafür zu sorgen, dass der tägliche Konsum funktioniert, die Menschen mit der Butter zu versorgen, war für den Staat eine ruhmlose Krümelkackerei. Selbst wenn es dem Staat gelungen wäre, Butter für alle zu produzieren, hätte die Bevölkerung die Butter doch sofort aufgegessen und nach der neuen Portion gefragt.

Noch schlimmer stand es um die Hosenproduktion. Denn alle Menschen in unserem Land hatten unterschiedliche Größen. Die einen hatten kurze Beine und dicke Hinterteile, die anderen umgekehrt. Es reichte nicht, eine schöne überdimensionale Hose für das ganze Volk zu nähen. Fürs damalige Kleidungsministerium eine unmögliche logistische Aufgabe, die Verwaltung wäre damit überfordert gewesen.

Sehr richtig entschieden wir uns also für den Weltraum. Irgendwann aber stellten unsere Kosmonauten fest, dass da oben nichts außer Steinen und Sand zu holen ist. Die ganze Mühe war umsonst gewesen. Durch diese bittere Enttäuschung sei der Sowjetunion die Luft ausgegangen, hieß es.

Nachträglich gaben viele auch der sozialistischen Planwirtschaft die Schuld am Untergang. Ich persönlich glaube nicht an diese wirtschaftlichen Theorien, auch ohne Hosen und Butter hätte meine Heimat, das sozialistische Wunderland, wunderbar die nächsten 70 Jahre schaffen können, wenn sie nicht von einem Musikstück entzaubert worden wäre.

Ein Akustiksturm in der Taiga

Im August 1989, gut 20 Jahre nach Woodstock, fand im Rahmen der vorübergehenden Demokratisierung das "Moskau Music Peace Festival" in unserem Moskauer Olympiastadion statt – mit 300.000 Zuschauern. In Russland hieß dieses Festival "Rock gegen Drogen", im Volksmund wurde es "Bienen gegen Honig" genannt, was nicht wundert angesichts der eingeladenen Bands: Ozzy Osbourne, Mötley Crüe, Cinderella. Und natürlich waren die Scorpions auch dabei.

Die Scorpions sangen der Legende nach bereits zu diesem Ereignis ihren Spitzentitel "Wind of Change“, es wurde entsprechend im russischen Fernsehen übertragen. Die sowjetischen Menschen waren verblüfft, plötzlich schien das Leben viel mehr zu bieten – und alle sangen dieses "Wind of Change", es war ein Ohrwurm sondergleichen. Der Song breitete sich wie Feuer in der Taiga aus, mit seiner Melodie im Kopf konnte niemand mehr einfach weiterleben wie davor. Kurz darauf brach die Sowjetunion zusammen.

Später gestand ein Mitarbeiter der CIA, den Songtext von "Wind of Change" dem Sänger der Band "Scorpions", Klaus Meine, kurz vor dem Abflug nach Moskau in die Tasche gesteckt zu haben. Seine Abteilung (Fighting Poetry) und nicht die Musiker hätten den Song erschaffen, um der Sowjetunion maximal zu schaden, behauptete der Spion. Der Sänger Klaus Meine amüsierte sich prächtig über diese Vorwürfe, der Song sei erst nach dem "Moskau Music Peace Festival" entstanden. Sagt Meine.

Aber egal: Je mehr Zeit vergeht, umso klarer wird die herausragende Rolle, die der Auftritt der Scorpions beim Niedergang der Sowjetunion gespielt hat.

Heute bietet eine ganz andere Musik als der Rock Wladimir Putin die Stirn: der Rap. Sie haben es mit ihrer Systemkritik vergleichsweise leicht. Den Rappern ist es nämlich egal, ob ihre Konzerte verboten werden. Wenn sie nicht auf die Bühne dürfen, gehen sie halt auf die Straße. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren bedeutende Namen der russischen Rapszene gemeinsam auf einer Demonstration zu sehen. Rapper, die sich sonst heftigst anfeinden – vereint gegen Russlands Präsidenten. Eine Rap-Version von "Wind of Change" gibt es allerdings noch nicht.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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