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Historiker im Interview | Antisemitismus? "Eine permanente Gefahr"


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Judenhass in Deutschland
"Kampf gegen den Antisemitismus muss jeden Tag neu geführt werden"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 30.04.2021Lesedauer: 6 Min.
Synagoge in Hamburg: Vor dem Gotteshaus gab es im Oktober 2020 einen Anschlag auf einen jüdischen Studenten.Vergrößern des Bildes
Synagoge in Hamburg: Vor dem Gotteshaus gab es im Oktober 2020 einen Anschlag auf einen jüdischen Studenten. (Quelle: imago-images-bilder)

Seit Jahrhunderten werden Juden in Deutschland angefeindet. Woher stammt der Hass? Historiker Peter Longerich erklärt die Mechanismen der Judenfeindschaft.

Beim Stichwort Antisemitismus denken viele Menschen an das "Dritte Reich", doch Judenfeindschaft ist auch heute noch weit verbreitet. Auch in Deutschland. Nicht nur in Anschlägen von Extremisten wie jenem auf die Synagoge in Halle an der Saale. Auch in vielen vermeintlich kleinen Attacken, Beschimpfungen, Diskriminierungen.

Peter Longerich ist führender Forscher zur Geschichte des Antisemitismus, der Historiker hat soeben ein umfassendes Buch zum Thema veröffentlicht. Politik und Gesellschaft stehen laut Longerich in der Pflicht, der Judenfeindschaft offensiver entgegenzutreten. Noch immer werde das Problem von Politikern und auch vielen Bürgern unterschätzt. Ein Gespräch über die Wurzeln des Hasses, die Vergleichbarkeit von Holocaust und Kolonialverbrechen sowie Irrwege des Nationalismus:

t-online: Herr Longerich, wie stark ist der Antisemitismus mehr als 75 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft in Deutschland noch verwurzelt?

Peter Longerich: Zu stark. Umfragen zufolge empfinden zwar nur rund 20 Prozent der Bundesbürger den Antisemitismus als ernstzunehmendes Phänomen. Laut einer Umfrage unter deutschen Juden aus dem Jahr 2016 sehen aber 76 Prozent von ihnen im Antisemitismus ein erhebliches Problem. Die Wahrnehmung hängt also sehr davon ab, ob man selbst Jude ist oder nicht. Anschläge wie der in Halle vor zwei Jahren sind ja nur die Spitze des Eisbergs.

Wo äußert sich die Judenfeindlichkeit konkret?

Vor allem in der Weitergabe antisemitischer Klischees in Familie, Verein und Kirche. Das müsste noch viel besser erforscht werden. Ein Beispiel: Vor Jahren war einmal eine Befragung unter den Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehren in Schleswig-Holstein in Hinsicht auf antisemitische Vorurteile geplant. Doch das Vorhaben scheiterte, weil schon die Fragestellung von den Verantwortlichen als Zumutung empfunden wurde.

Tut die Politik genug gegen Antisemitismus?

Man muss sagen, dass die bisher getroffenen Maßnahmen ihre Wirkung doch verfehlt haben. Die Bundesregierung hat im letzten September einen umfangreichen Bericht über ihre künftige Politik zur Bekämpfung des Antisemitismus vorgelegt, und es bleibt abzuwarten, ob das besser greift.

Peter Longerich, Jahrgang 1955, lehrte Moderne Geschichte an der Universität London und gründete dort das Holocaust Research Centre. Später arbeitete der Historiker an der Universität der Bundeswehr in München. Longerich war einer der beiden Sprecher des ersten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags. Seine zahlreichen Publikationen zur Geschichte des Nationalsozialismus wie "Politik der Vernichtung", "Davon haben wir nichts gewusst!" oder "Hitler" gelten als Standardwerke. Soeben ist Longerichs neuestes Buch erschienen: "Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte".

Welche Rolle spielt der Antisemitismus unter hier lebenden Muslimen?

Er ist ein Problem, aber man muss da differenzieren: Muslimische Jugendliche aus der Türkei fallen seltener durch Antisemitismus auf als etwa Jugendliche aus Palästina oder Syrien, bei denen er zum Teil massiv auftritt; diese Jugendlichen sehen den Staat Israel und dessen Behandlung der Palästinenser sehr kritisch und es ist offensichtlich, dass sie diese negative politische Einstellung leicht auf alle Juden übertragen.

Feindschaft gegen Juden gibt es hierzulande seit Jahrtausenden. Woher stammt dieser Hass?

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war die Religion der Ausgangspunkt: Juden erkannten die christliche "Wahrheit" nicht an: Christen verehren Jesus als Gottes Sohn, Juden nicht. Hinzu kamen bösartige Verleumdungen, wie angebliche Hostienschändungen oder Brunnenvergiftungen. Vor allem aber stand die Minderheit der Juden außerhalb der ständischen Gesellschaftsordnung und spielte eine Sonderrolle. An dieser Rolle entzündeten sich immer wieder Konflikte. Die Geschichte von Joseph Süß Oppenheimer ist ein Beispiel dafür.

Sie diente den Nationalsozialisten 1940 als Vorlage für ihren antisemitischen Propagandafilm "Jud Süß".

Es ist ein abstoßender Film, aber auch die historische Grundlage ist grausam: Joseph Süß Oppenheimer war im 18. Jahrhundert Ratgeber und Finanzmanager des Herzogs Karl Alexander von Württemberg. Dem dauerhaften Konflikt zwischen Herrscher und Ständen fiel er zum Opfer und wurde 1738 hingerichtet. Es war ein Justizmord auf Basis antisemitischer Anschuldigungen. Der Fall zeigt, dass selbstverständlich nicht nur religiöse Feindschaft, sondern auch handfeste politische und finanzielle Interessen bei der Behandlung der Juden eine Rolle spielten.

Bis heute wird jüdisches Leben im mittelalterlichen Deutschland oft auf die Rolle als Geldverleiher reduziert.

Richtig, und das greift viel zu kurz. In vielen Schulbüchern wird zum Beispiel auf das Zinsverbot für Christen im Mittelalter verwiesen und behauptet, Juden seien deshalb zu Geldverleihern geworden, weil sie von diesem Verbot ausgenommen gewesen seien. Tatsächlich hat es ein effektiv wirksames Zinsverbot aber über lange Zeiträume gar nicht gegeben. Es gab also auch christliche Bankiers und Geldverleiher. Wenn ich in Schulbüchern ein Bild eines mittelalterlichen Juden sehe, steht es meistens in Zusammenhang mit Geld. Warum zeigt man nicht stattdessen einen jüdischen Arzt oder Rabbiner?

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Also ist die Vermittlung jüdischer Geschichte in Deutschland bis heute stigmatisierend?

In gewisser Weise ja. Es gibt Untersuchungen darüber, dass die Darstellung jüdischer Geschichte in Schulbüchern tatsächlich einen falschen Eindruck vermitteln kann. In dem Sinne, dass die Juden eine Minderheit in der deutschen Geschichte gewesen seien, die immer nur "Probleme" verursacht habe: im Mittelalter, im Kaiserreich und auch später in der Weimarer Republik. Das Thema Judentum wird vorwiegend dann behandelt, wenn es zu Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden kam.

Im 19. Jahrhundert häuften sich die Krisen. Als der deutsche Nationalismus entstand, verschärfte sich die Judenfeindschaft.

Ab diesem Zeitpunkt beinhaltete die Judenfeindschaft zwei Komponenten: Zum einen galt der alte Vorwurf weiter, dass die jüdische Religion sich weitgehend in dem stumpfen Befolgen von leeren Ritualen erschöpfe, die Juden aber eigentlich moralisch verdorben seien. Zum zweiten betrachteten Judenfeinde die Minderheit nun als einen Staat im Staate, ein anderes Volk. Das verschärfte die Ausgrenzung.

Wie weit waren solche Vorurteile verbreitet?

Sogar viele Liberale waren überzeugt, dass die deutsche Nation auf Kultur und Abstammung basiere und die Juden deshalb daran eigentlich nicht teilhaben konnten. Alle Versuche seitens der deutschen Juden, sich noch so sehr anzupassen, um als vollwertige Staatsbürger anerkannt zu werden, waren damit zum Scheitern verurteilt. Juden waren ja am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem großen Teil Angehörige des Bürgertums und in vielen jüdischen Haushalten stand, obwohl man der jüdischen Gemeinde angehörte, sogar ein Weihnachtsbaum! Auch das half ihnen nicht. Zwar waren sie im Kaiserreich rechtlich den anderen Bürgern gleichgestellt, aber es gab weiter eine systematische Politik der Diskriminierung. So konnten Juden keine Offiziersränge oder höhere Verwaltungsposten bekleiden. Auch bei Universitätskarrieren waren sie eindeutig benachteiligt.

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Im Ersten Weltkrieg kämpften dann viele jüdische Männer für Deutschland an der Front, sie erhofften sich Anerkennung und ein Ende der Diskriminierung.

Vergeblich. Tatsächlich wurde der Antisemitismus zwischen den Weltkriegen sogar stärker, befeuert unter anderem vom Alldeutschen Verband, einer antisemitischen, militaristischen und nationalistischen Massenorganisation. Noch im Kaiserreich war der Staat bei antisemitischen Übergriffen schnell eingeschritten. In der Weimarer Republik war das nicht mehr der Fall; Gewalt gegen Juden gehörte nun in Großstädten zum Alltag. Sie wurden von Radikalen auf offener Straße beschimpft und verprügelt. Als der jüdische Außenminister Walther Rathenau 1922 von rechtsextremen Attentätern ermordet wurde, fand dies in diesen Kreisen breite Zustimmung.

Wie kam es, dass diese eher spontanen Angriffe in organisierte antisemitische Gewalt übergingen?

Da kommt Hitler ins Spiel. Bei seinem Putschversuch 1923 ließ er Juden als Geiseln nehmen. Auch andere Antisemiten weiteten ihre Tätigkeiten und Ziele aus. So wurde der Antisemitismus in der Weimarer Republik geradezu zur Systemopposition: Wer sich öffentlich als Antisemit betätigte, wollte auch den Staat abschaffen, die sogenannte "Judenrepublik". Das war nun etwas anderes als noch im Kaiserreich.

Wieso fruchtete Hitlers Judenfeindlichkeit bei so vielen Menschen?

So absurd es heute für uns klingen mag: Tatsächlich glaubten damals viel seiner Anhänger wirklich daran, durch die Entrechtung der Juden eine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation zu erreichen. Der Antisemitismus war für die Nazis das wichtigste ideologische Bindemittel. Liest man das Buch "Mein Kampf", spürt man noch heute diese Obsession: Hitler führte alle echten und angeblichen Probleme seiner Zeit auf Juden zurück, die angeblich im Hintergrund die Fäden zogen. In einer Zeit gesellschaftlicher Umwälzungen und wirtschaftlicher Krisen fielen diese Vorurteile auf fruchtbaren Boden.

Also trug der Antisemitismus entscheidend dazu bei, dass Hitler 1933 die Macht übernehmen konnte?

Das muss man einschränken: Hitler gelangte nicht auf einer antisemitischen Welle an die Macht. Tatsächlich hatte die NSDAP seit ihrer Wandlung zur Massenpartei ab 1930 den Antisemitismus sogar etwas in den Hintergrund treten lassen. Sie hatte wohl bemerkt, dass die Zahl der radikalen Antisemiten in der Bevölkerung kleiner war als die Zahl ihrer potenziellen Wähler. Vielen Menschen war es jedoch egal, ob antisemitische Gesetze erlassen wurden oder nicht. Dieses Desinteresse der Mehrheit in Kombination mit dem Hass der Nationalsozialisten wurde für die jüdische Minderheit zur Katastrophe.

Als das Tragen des "Judensterns" für jüdische Menschen über sechs Jahren 1941 in Deutschland zur Pflicht wurde, war die "Endlösung der Judenfrage" bereits im Gange. Heute streiten sich Historiker darüber, ob man den Holocaust mit den Verbrechen der Kolonialzeit gleichsetzen kann. Was sagen Sie?

Den Kolonialisten ging es im Kern um die Eroberung von Land und die Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung als Arbeitskräfte. Die Nationalsozialisten hingegen wollten die Juden systematisch vernichten. Das ist ein großer Unterschied.

Wird sich der Antisemitismus jemals wirkungsvoll eindämmen lassen?

Der Kampf gegen den Antisemitismus muss jeden Tag neu geführt werden. Er bleibt eine permanente Gefahr, weil er so wandlungsfähig ist.

Professor Longerich, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Peter Longerich
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