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Corona, Pest, HIV: Die Menschheit fällt immer auf die gleichen Lügen rein


Mythen um Corona
Seit der Pest: Menschen fallen oft auf die gleichen Lügen rein

Von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 29.11.2020Lesedauer: 4 Min.
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Demonstration gegen Corona-Maßnahmen, Pesthaube und Virus: In Zeiten von Seuchen richten Verschwörungsmythen immer wieder viel Schaden an.Vergrößern des Bildes
Demonstration gegen Corona-Maßnahmen, Pesthaube und Virus: In Zeiten von Seuchen richten Verschwörungsmythen immer wieder viel Schaden an. (Quelle: photothek//IPON/imago-images-bilder)

Mittel zur Errichtung einer Diktatur und dem Labor entsprungen? Um die Corona-Pandemie kursieren zahlreiche Märchen. Der Blick in die Geschichte entlarvt die Masche, die dahintersteckt.

Im Herbst 1918 wurden in den USA die Särge knapp. Eine Seuche suchte den Globus heim, in der Schweiz notierte der Schriftsteller Stefan Zweig: "Sie frisst täglich 20.000 bis 40.000 Menschen weg." Die Rede ist von der Spanischen Grippe, der verheerendsten Influenza-Pandemie, die jemals die Menschheit heimgesucht hat.

Der Erreger ist ein winzig kleines Virus, doch diese Erkenntnis sollte sich erst in den Dreißigerjahren einstellen. 1918 vermuteten viele Amerikaner eine ganz andere Ursache für die Epidemie: die Deutschen. Mit diesen befanden sich die Amerikaner seit 1917 im Krieg.

Tod aus der Aspirin-Packung?

Verschwörungstheorien hatten Hochkonjunktur. Allein beim Anblick einer Aspirin-Packung des deutschen Herstellers Bayer wurde damals vielen Menschen unwohl. Handelte es sich wirklich ausschließlich um das Medikament? Oder hatten die Deutschen darin etwa auch den Erreger verborgen, der so schreckliche Folgen zeitigte?

Oder noch viel schlimmer: Hatten deutsche U-Boote still und heimlich die todbringenden Erreger in die Vereinigten Staaten geschmuggelt? Man traute dem Kriegsgegner so einiges zu. 1915 setzten die Deutschen bei Ypern als erste kriegsführende Nation Giftgas als Massenvernichtungswaffe ein. Wer so etwas tut, könnte auch zu ganz ähnlichen heimtückischen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung greifen, so die Überlegung. "Die Deutschen haben Epidemien in Europa ausgelöst", behauptete eine ranghoher US-Offizier 1918, wie ihn Laura Spinney in ihrem Buch "1918. Die Welt im Fieber" zitiert. "Es gibt keinen Grund, warum sie Amerika mit Samthandschuhen anfassen sollten."

So wurde die Spanische Grippe zunächst auch als "Deutsches Gift" bezeichnet. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Kriegsgegner nichts mit der Entstehung der Pandemie zu tun hatte. Denn auch die Deutschen litten und starben an der Influenza.

Irrglaube seit Jahrhunderten

Knapp hundert Jahre nach der Spanischen Grippe sorgt das Coronavirus in unserer Gegenwart für Angst und Unsicherheit. Und wie vor 100 Jahren sprießen die Verschwörungsmythen. Corona entstamme dem Labor, so heißt es etwa, Covid-19 solle dazu benutzt werden, die Deutschen im Besonderen und die Menschheit im Allgemeinen zu unterjochen. Bill Gates wird als Hauptmissetäter bezeichnet, der mittels Impfungen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seine angeblich sinisteren Pläne zur Erfüllung bringen wolle.

Doch alle Verschwörungsmythen rund um die furchtbaren Seuchen der Menschheitsgeschichte kranken an einer einfachen Tatsache: Sie entbehren jeglicher Grundlage, halten keiner kritischen Überprüfung stand. In Zeiten der Unsicherheit suchen trotzdem manche Menschen heute und damals nach scheinbar einfachen Erklärungen für überaus komplexe Probleme – ein Nährboden für Verschwörungsmythen.

Um 1348 etwa wurde Europa von einer anderen Seuche heimgesucht, dieses Mal war ein Bakterium der Verursacher. Yersinia pestis lautet sein Name, es ist der Erreger der Pest. Der sogenannte Schwarze Tod entvölkerte Europa, die Menschen waren ratlos, was der Grund für dieses Massensterben sein konnte. War es ein göttliches Strafgericht?

Das hätte in der Logik der Zeit bedeutet, dass die Menschen selbst an der Pest schuld gewesen wären. Stattdessen verfielen manche Verschonte und Überlebende auf eine ganz andere Erklärung: Binnen kürzester Zeit hieß es, die Juden seien schuld. Gefördert und befeuert wurde diese Lüge von mancher Obrigkeit. Brunnen etwa seien von den Juden vergiftet, die Pest als Geißel der Menschheit von ihnen verbreitet worden.

All dies war frei erfunden – und erwies sich doch als mörderisch. In zahlreichen Städten wurden die jüdischen Menschen abgeschlachtet, diese Verbrechen waren Mord und Diebstahl zugleich. Denn mit den umgebrachten Juden verloren viele Christen gleichzeitig ihre Gläubiger, deren Eigentum man sich zusätzlich aneignete. Hunderte jüdische Gemeinden waren nach dem Ende der antijüdischen Gewaltexzesse zerstört.

AIDS als Propagandawaffe des KGB

Wie im 14. Jahrhundert sorgten und sorgen auch in unserer Zeitgeschichte Seuchen für Panik und Hysterie. 1982 berichtete das Nachrichtenmagazin "Spiegel" über den sogenannten "Schreck von drüben". "Drüben", damit sind die USA gemeint, wo damals eine mysteriöse Erkrankung für Schrecken zunächst vor allem unter Homosexuellen sorgte. Als "Schwulen-Seuche" wurde AIDS (Erworbenes Immunschwächesyndrom), ausgelöst vom Humanen Immundefizienz-Virus, schnell und stigmatisierend bezeichnet.

Doch das Virus teilt die menschlichen Vorurteile nicht, es ist ihm gleich, ob sein Wirt hetero- oder homosexuell ist, auch Hautfarbe und Religion sind HIV einerlei. Der sogenannte "Schwulen-Krebs" verbreitete sich rasant – auch außerhalb der Homosexuellen- und Drogenszene. Während Wissenschaftler Virus und Krankheit erforschten, glaubten manche Menschen lieber Verschwörungstheorien. Wie heute bei Corona entstand schnell der Irrglaube, dass HIV einem Labor entsprungen sei – als Kampfstoff der amerikanischen Streitkräfte, anstatt seinen Ursprung in Affen zu haben, wie es der Realität entspricht.

Im Kalten Krieg waren die aufkommenden Verschwörungsmythen Wasser auf den Mühlen des KGB. Der sowjetische Geheimdienst startete eine Desinformationskampagne, um dem Klassenfeind im Westen zu schaden. Unterstützendes Organ der KGB-Anstrengungen war die Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsnachrichtendienst der DDR, der dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war.

Jakob Segal und seine Frau Lilli, ein Forscher-Ehepaar aus der DDR, leisteten Schützenhilfe. Der Biologe Segal machte Fort Detrick in Maryland, einen Stützpunkt der US-Streitkräfte, der – natürlich – ein Labor beheimatet, als angeblichen Ort der Entstehung von HIV aus. Das in Segals Vorstellungswelt dort geschaffene HIV sei später an Gefängnisinsassen erprobt worden. Diese wiederum, hinter Gittern homosexuell geworden und dann entlassen, hätten das Virus verbreitet. Unsinn von vorne bis hinten.

Dass der DDR-Biologe den Erreger niemals selbst untersucht hatte, focht ihn dabei keineswegs an. Seine Behauptungen, jeder wissenschaftlichen Untermauerung entbehrend, entließ Segal trotzdem in die Welt. Mit Folgen bis in die Gegenwart: So erschwert die Verschwörungstheorie bis heute in manchen afrikanischen Staaten die Aufklärung über und die Behandlung von AIDS. Insbesondere wenn die USA in irgendeiner Form beteiligt sind.

Am Beispiel der Immunschwächekrankheit wird so überaus deutlich, welchen Schaden Verschwörungsmythen rund um Seuchen anrichten können. Besser ist es, der Wissenschaft zu vertrauen. So ist auch das Coronavirus kein Versuch von irgendjemanden, die Menschheit zu unterjochen. "Komplexe Machtpläne bleiben selten im Verborgenen, und sie glücken auch nur selten", brachte es Yuval Noah Harari, einer der weltweit führenden Historiker, im t-online-Interview auf den Punkt. "Jetzt zu glauben, dass ein paar machthungrige Milliardäre mithilfe eines Virus die ganze Welt übernehmen könnten, ist lächerlich."

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