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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kalter Krieg Als Churchill den Angriff auf Stalins Armee planen ließ
Winston Churchill und Josef Stalin waren Verbündete wider Willen, der britische Premier misstraute dem Sowjetdiktator zutiefst. Nach Kriegsende wies
Eigentlich hätte Winston Churchill am 12. Mai 1945 bester Stimmung sein müssen. Vier Tage zuvor hatte die deutsche Wehrmacht kapituliert, der Zweite Weltkrieg war – zumindest in Europa – vorbei. Doch Großbritanniens Premierminister, der Adolf Hitler erfolgreich die Stirn geboten hatte, war in Sorge. "Ein eiserner Vorhang senkt sich über die russische Front", telegrafierte Churchill an besagtem 12. Mai ans Weiße Haus. "Wir wissen nicht, was dahinter geschieht."
Josef Stalin war der Mann, der Churchill zutiefst besorgte. Am 22. Juni 1941, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, waren Großbritanniens Premier und der Sowjetdiktator Alliierte geworden. Ein ungeliebtes Bündnis, allein zusammengeschweißt durch den gemeinsamen Gegner Deutschland. Mit dem sich Stalin nicht lange zuvor noch Polen geteilt hatte.
Kommunistenhasser aus Überzeugung
Churchill war strammer Antikommunist, nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte er noch gedichtet: "Kill the Bolshie, kiss the Hun" (Zu Deutsch: "Töte den Bolschewiken, küsse den Hunnen [also die "Deutschen", Anmerkung der Redaktion])". Stalin hingegen machte sich keine Illusionen, was Churchills Misstrauen anging. Grund zur Furcht hatte der sowjetische Diktator aber kaum, denn die Amerikaner – auf die es wirklich ankam – waren ihm noch wohlgesonnen. "Uncle Joe" nannte man den skrupellosen Massenmörder in den USA lange Zeit.
"Sowjetrussland war zu einer tödlichen Gefahr für die freie Welt geworden", bilanzierte der hellsichtigere Churchill Stalins Machthunger später. Entsprechend bestellte der britische Premierminister wenige Tage nach Deutschlands Niederlage seine Offiziere ein. Ihre Aufgabe: einen Angriff auf die Rote Armee zu planen. Auch den Tag der möglichen Offensive gab Churchill vor: 1. Juli 1945. Es war der Tag, an dem der Dritte Weltkrieg hätte beginnen können.
Vor allem ging es Churchill darum, das von der Roten Armee besetzte Polen dem Zugriff Stalins zu entziehen. 1939 war Großbritannien nach dem deutschen Angriff auf Polen in den Krieg eingetreten, während all der Jahre hatten polnische Soldaten im Exil tapfer auf Seiten der Alliierten gekämpft. Nur, um dann die deutsche Fremdherrschaft über Polen durch die sowjetische zu ersetzen? Für Churchill ein Unding.
Unter seinen Stabsoffizieren herrschte hingegen Fassungslosigkeit bis Entsetzen. Gerade erst war der Jubel über die Kapitulation der Wehrmacht verklungen, nun war ein weiterer Krieg abzusehen. "Operation Unthinkable", zu Deutsch: "Operation Undenkbar", wählten sie deshalb als Bezeichnung – wie als deutliche Warnung – für ihre Planung, die am 22. Mai 1945 in einem Report zusammengefasst wurde. Mit allen Mitteln sollte Churchill begreiflich gemacht werden, dass ein Angriff auf die Rote Armee im Desaster enden musste.
Auch Deutsche sollten mitkämpfen
Der Premierminister drängte gleichwohl zur Eile, wohl wissend, dass der Zeitkorridor eng war. Die Demobilisierung der westlichen Armeen war nach Kriegsende absehbar. Wenn zugeschlagen werden sollte, dann schnell. Zudem hatte Churchill noch ein Ass im Ärmel: die geschlagenen Deutschen. "Auch deutsches Militär und was von der deutschen Industriekapazität übrig geblieben ist", sollte laut Churchill mit einbezogen werden in den Angriffsplan, wie sein Biograf Thomas Kielinger zitiert. Sprich: Rund 100.000 deutsche Soldaten sollten für den Kampf mobilisiert werden.
Jegliche Hilfe wäre im Ernstfall auch vonnöten gewesen. Knapp 50 Divisionen standen damals für eine Offensive auf Seiten der westlichen Alliierten zur Verfügung, weitere 40 hätten für anderweitige Zwecke bereitgestanden. Die Rote Armee verfügte hingegen über 170 Divisionen zur schnellen Gegenwehr. Der Westen war also hoffnungslos in der Unterzahl, selbst wenn die Amerikaner Churchills neuen Krieg unterstützt hätten. Was mehr als fraglich ist.
Kein Wunder, dass die Offiziere in den Dokumenten zur "Operation Unthinkable" eine Vorliebe für das Adjektiv "gefährlich" hegen. An anderer Stelle betonen sie, dass "die Niederlage Russlands in einem totalen Krieg" erzwungen werden müsste. An diesem Ziel war gerade erst Hitlers Wehrmacht gescheitert. Und selbst für den bestmöglichen Verlauf eines neuen Konflikts betonen die Strategen, "dass wir sehr lange brauchen würden, um zu gewinnen".
Stalin wusste längst Bescheid
Im kriegsmüden Großbritannien, in dem die Anerkennung für die Opfer und Leiden der Menschen in der Sowjetunion beim Kampf gegen die Deutschen enorm war, wäre entsprechend ein Angriff auf die Rote Armee aufs Schärfste missbilligt worden. Zumal im Fernen Osten weiter gegen Japan gekämpft wurde. Entsprechend unterlag die "Operation Unthinkable" schärfster Geheimhaltung. Auch zum Schutz vor sowjetischen Agenten.
Vergeblich, denn der Kreml hatte seine Leute an den richtigen Stellen in London sitzen. Schnell wusste Stalin über Churchills Pläne Bescheid. Die Sowjets nahmen es allerdings sportlich. Denn wie der Briten-Premier Pläne gegen ihn schmiedete, so agierte Stalin gegen Churchill. Schon seit 1944 betrieb die Rote Armee Planungen, wie sie in Norditalien und Frankreich eindringen könnte, zusätzlich zur Einnahme Dänemarks und Norwegens.
Am 17. Juli 1945 trafen Churchill und Stalin dann persönlich auf der Potsdamer Konferenz in Deutschland zusammen. Der britische Premier war allerdings auf Abruf dort. Ende Juli wurde bekannt, dass er die Wahlen zum Unterhaus verloren hatte. Sieger war Clement Attlee von der Labour Party, der die Verhandlungen übernahm.
Letzten Endes wird sich Churchill damit getröstet haben, dass er mit seinen Warnungen vor Stalin recht behalten sollte – der Kalte Krieg war nicht mehr fern. Im März 1946 fasste Churchill bei einer Rede in den USA seine historische Einschätzung der Lage zusammen: Ein "eiserner Vorhang" habe sich "über den europäischen Kontinent gesenkt". Es sollte Jahrzehnte dauern, bis dieser "Vorhang" 1989 wieder fallen sollte. Noch länger dauerte es, bis Churchills Pläne für den Dritten Weltkrieg 1998 der Öffentlichkeit bekannt wurden.
- Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg (2014)
- Christian Graf von Krockow: Churchill (1999)
- Thomas Kielinger: Churchill (2017)
- Jonathan Walker: Churchill's Third World War (2013)
- The National Archives: "Operation Unthinkable"
- Dailymail: Operation unthinkable: How Churchill wanted to recruit defeated Nazi troops and drive Russia out of Eastern Europe
- "Spiegel": Zyniker in der Downing Street